Essen. Für rund 149.000 Erstklässler beginnt jetzt das Leben als Schulkind. Vielen Kleinen aber fehlt offenbar die Schul-Reife – die Fähigkeit zur Konzentration, zum Stillsitzen, zur Zusammenarbeit mit anderen Kindern. Die Zahl der Rückstellungen steigt, der Boom der vorzeitigen Einschulung ist vorbei.

Kinder können und sollen früher lernen, Schule und Uni zügig absolvieren, entschied 2006 die schwarz-gelbe Regierungskoalition in Düsseldorf. Künftig sollten schon Fünfjährige zur Schule gehen, parallel dazu wurde das gymnasiale Turbo-Abitur nach acht Jahren Gesetz.

Bis dahin ­galt: Ein Kind wird am 1. August eingeschult, wenn es bis zum 30. Juni das sechste Lebensjahr vollendet hat. Bis zum Schuljahr 2014 sollte der Stichtag schrittweise auf den 31. Dezember wandern. 2010 kam Rot-Grün zurück an die Regierung, 2011 stoppten SPD und Grüne den Prozess. Seitdem gilt dauerhaft der Stichtag 30. September.

Nach dem Pisa-Schock von 2001 diskutierten Politiker, Lehrkräfte, Experten und Eltern heftig darüber, wie Kinder möglichst früh ans Lernen zu bringen sind – Englisch oder Japanisch für Dreijährige fanden viele Eltern schon in der Kita erforderlich.

Zehnmal mehr Rückstellungen

Seitdem wird zunehmend deutlich, dass das Alter allein wenig darüber sagt, ob ein Kind reif ist für das Schüler­dasein. Seit dem Schuljahr 2005/06 steigt die Zahl der Kinder, die „aus erheblichen medizinischen Gründen“ für ein Jahr zurückgestellt wurden, stark an.

313 Mädchen und Jungen wurden nach Angaben des Schulministeriums damals zurückgestellt. Bis 2011 hat sich diese Zahl auf 3740 mehr als verzehnfacht, 2012 waren es noch 3075 Kinder. Der Anteil der Jungen stieg seit 2005 von 59 auf 66 Prozent. Die Zahlen für das Schuljahr 2013/14 werden zurzeit ermittelt, sagte ein Sprecher des Düsseldorfer Schulministeriums. „Wir gehen aber davon aus, dass die Zahl sinken wird.“

Umfrage bei den Grundschulen im Land

Über die Ursachen des extremen Anstiegs rätseln offenbar auch die Experten in Düsseldorf. Anfang 2014 fragte das Ministerium erstmals landesweit bei den Schulen Fallzahlen und Hintergründe der Rückstellungen ab. Die Ergebnisse liegen noch nicht vor.

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Bayern erlebt das Phänomen noch extremer: 2009 wurden 9666 Kinder zurückgestellt, 2013 waren es 12.427 – bei 102.372 ­I-Dötzchen insgesamt. Für Bildungsexperten ein klarer Fall: Immer mehr Eltern wollten ihrem Kind den immensen Druck in der Grundschule möglichst lange ersparen. Ohne das „Grundschulabitur“ – ein Notenschnitt von mindestens 2,33 in der vierten Klasse – ist der Aufstieg zum Gymnasium dort erledigt.

Schulleitung und Mediziner entscheiden

Dieses Motiv schließt der Sprechen des NRW- Schulministeriums aus: „Hier entscheidet die Schulleitung, ob ein Kind ein Jahr zurückgestellt wird, Grundlage dazu ist das Gutachten des Schulmedizinischen Dienstes.“ Eltern, die glauben, ihr Kind sei dem Schulalltag noch nicht gewachsen, könnten eine Begutachtung beantragen. Und die Eltern wählen in NRW die weiterführende Schule selbst aus.

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Allerdings weist die Schulstatistik auch aus, dass die Zahl der vorzeitig eingeschulten Kinder rasant fällt: 2005 waren 16.849 Erstklässler – also fast jedes zehnte I-Dötzchen – keine sechs Jahre alt. 2013 waren es noch 4001 Kinder.

„Viele Eltern wollen das nicht mehr“

Rixa Borns, Grundschul-Leiterin und Fachfrau der Lehrergewerkschaft GEW, überrascht das nicht: „Viele Eltern wollen das nicht mehr: den Schulstart vor der Zeit“, sagte sie dieser Zeitung. Hochbegabte Kinder seien Ausnahmefälle, meist leicht zu integrieren. Viele andere Eltern würden ihr Kind lieber noch ein Jahr in der Kita lassen.

Das klappt allerdings selten. Die meisten Träger sind nicht mehr daran interessiert, Sechsjährige weiter zu betreuen: „Sie brauchen jeden freien Platz, um die Zweijährigen aufzunehmen, die den gesetzlichen Anspruch darauf haben.“

Dramatische Folgen des frühen Scheiterns 

Außerdem gebe es in manchen Regionen des Landes deutlichen Druck aus der Schulverwaltung, möglichst alle Kinder im entsprechenden Alter auch einzuschulen, keine Spielräume zu nutzen. „Da darf kein Kind zurückgestellt werden.“

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Das sei unverständlich und nicht nachvollziehbar, sagt die Praktikerin. Seit 2007 hätten Schulen und Eltern schmerzlich erfahren, dass die frühe Einschulung viele Kinder überfordert. Die Folgen für die Kleinen seien dramatisch: „Zu erleben: Ich schaffe es nicht, alle anderen sind besser als ich – das ist kein guter Start ins Lernen.“ Das Gefühl, zu versagen, die Eltern zu enttäuschen, könne das ganze Schülerleben gefährden. „Ein Kind, das von Anfang an Angst vor dem Scheitern hat, lernt nicht gut.“

Ausnahmen in begründeten Einzelfällen

Birgit Völxen von der Landeselternschaft Grundschulen NW erinnert daran, dass die hochkarätig besetzte Bildungskon­ferenz NRW im Mai 2011 das Thema Rückstellungen intensiv diskutiert hatte. Besonders kritisiert wurde von den Elternverbänden, dass laut Gesetz nur medizinische Gründe und körperliche Gebrechen („erhebliche gesundheitliche Gründe“) eine Rückstellung erlaubten, Entwicklungsverzögerungen der Kinder aber nicht anerkannt wurden.

Ergebnis der Debatte war eine Empfehlung der Konferenz, dass bei der Begutachtung künftig auch die psychische Verfassung und der Entwicklungsstand der Kleinen berücksichtigt werden sollten. Falls Schule, Kita, Jugendamt, Ärzte oder Schulpsychologen zu einer übereinstimmenden Einschätzung kämen, sollte „in begründeten Einzelfällen auf Antrag der Eltern “ eine Vertagung des Schulstarts ins nächste Jahr ermöglicht werden. „Das passiert jetzt offenbar vermehrt“, vermutet Brigitte Völxen.

Fünfjährige lernen anders

Eigentlich, sagt sie, hätte sie nichts gegen eine Einschulung mit fünf Jahren. „Dann muss aber auch die Basis dafür geschaffen werden.“ Sprich: Die Grundschulen müssen vorbereitet sein auf kleine Mädchen und Jungen, die mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand antreten. Heute seien viele Schulen noch nicht eingestellt auf diese Altersklasse. „In dem Alter kann in ein, zwei Monaten so viel passieren, jedes Kind entwickelt sich anders. Auf diese Heterogenität und die persönliche Entwicklung muss die Schule eingehen.“ Fünfjährige lernen anders als die Klassenkameraden, die sechs oder fast schon sieben sind.