Mülheim. Mit fünf Jahren hat es sich für so manches Kind ausgespielt. Denn dann kommen viele I-Dötzchen bereits in die Schule – der Trend geht zur frühen Einschulung. Frühe Förderung oder Überforderung? Bildungsexperten sind geteilter Meinung.
Ex-Schulministerin Barbara Sommer (CDU) hatte sich in ihrer Amtszeit zum Ziel gesetzt, das durchschnittliche Einschulungsalter schrittweise vorzuverlegen. Bis zum Schuljahr 2014/15 sollte der 31. Dezember als Stichtag angesetzt werden. Seit dem Schuljahr 2007/08 wurde der Stichtag also vom 30. Juni bis heute auf den 30. September verschoben. Was bedeutet, dass viele Erstklässler bereits mit fünf Jahren in den Unterricht müssen. „Die Nachfolgeregierung hat vor, diesen Prozess nun einzufrieren“, weiß Schulamtsdirektorin Christa Stocks. Und meint: „Viele Eltern stellen Anträge auf vorzeitige Einschulung bei uns.“ 2011/12 kommen 66 von insgesamt 1398 „Neulingen“ auf Antrag in die Schule.
Für Gabriele Romango, Leiterin der Grundschule am Oemberg, hat dieser Trend viel mit Wettbewerbsdenken zu tun. Denn viele Eltern setzten mit einer frühen Einschulung ihrer Kinder eine bessere Förderung voraus. „Doch das stimmt nicht“, weiß Gabriele Romango. „Viele unterschätzen, was im Kindergarten geleistet wird.“ Denn das Spielen habe eine wichtige Funktion für die Kleinen. „Spielen fördert die Entwicklung.“
Hohe Anforderungen
Viele Fünfjährige seien den hohen Anforderungen in der Schule noch nicht gewachsen, ihnen fehle die Reife, sagt Romango. „Das wirkt sich dann auf die Empfehlung für die weiterführende Schule im vierten Schuljahr aus.“ Die Kinder könnten schlechtere Chancen haben, das Gymnasium zu besuchen. Dabei sei es für die Schule kein Problem das Kind hochzustufen, wenn es unterfordert sein sollte. „Anders herum wird es problematischer.“
Das schrittweise Vorziehen des Schuleintrittsalters, das die ehemalige Ministerin Barbara Sommer einführte, war für die Lehrerin und ihre Kollegen nicht nachvollziehbar. „Gerade in Kombination mit der Einführung der G8-Regelung.“ Hierbei sollten die Kinder im internationalen Wettbewerb bestehen können, so der Grundgedanke.
"Früher waren Eltern vorsichtiger"
„Jahrelang ging der Trend zur Rückstellung“, erinnert sich Schulpsychologe Günter Waberg. „Früher waren Eltern vorsichtiger und schickten ihr Kind lieber ein Jahr später in die Schule. Heute ist es genau umgekehrt – nun haben wir kaum noch Rückstellungen.“ Ob ein Kind mit fünf Jahren schon für die Schule geeignet ist oder nicht, sei individuell verschieden. „Für manchen Fünfjährigen ist es ein Segen, endlich Rechnen und Schreiben zu lernen, andere sind überfordert und können mit dem Schulprogramm nichts anfangen.“ Wichtig sei zu schauen, welche Fähigkeiten das Kind hat, ein Stärken-Schwächen-Profil zu erstellen. Kann es Silben erkennen, Mengen begreifen? Der Grad der Entwicklung sei eben nicht nur vom Alter abhängig.
Anders sieht das Nicole Lobeck-Chenard, die als Kinderärztin am Gesundheitsamt die Kleinen auf ihre Schultauglichkeit untersucht. „Die Kinder sollten so früh wie möglich in die Schule. Dort haben sie verpflichtende Strukturen, die sie für ihre Entwicklung brauchen.“ In den Kitas seien die Voraussetzungen anders: Gerade in altersgemischten Gruppen könne nicht jedes Kind individuell gefördert werden. „Warten bringt daher nichts.“ Und: „Kinder sind auch schon mit fünf Jahren interessiert und können stillsitzen, Buchstaben oder das Zählen lernen, es ist nur eine Frage der Förderung.“ Für sie liege das Problem daher im System selbst: „Kindergarten und Schule müssten flexibler sein, besser aufeinander abgestimmt werden, enger miteinander verzahnt sein.“ Das System müsse sich eben den Bedürfnissen der Kinder anpassen – nicht umgekehrt.