Washington/St. Louis. Nach erneuten Unruhen wegen des Tods eines schwarzen Teenagers in Ferguson hat der Gouverneur des US-Staates Missouri jetzt die Nationalgarde zur Hilfe gerufen. Die Soldaten sollten der Polizei helfen, “Ruhe und Ordnung wiederherzustellen“, sagte Jay Nixon am frühen Montagmorgen in einer Mitteilung. Zuvor war es vor einer nächtlichen Ausgangssperre wieder zu Krawallen in der Kleinstadt gekommen.

Am kommenden Sonntag findet in der Kathedrale von St. Louis ein ganz besonderer Gottesdienst statt. Ein Viertel-Jahrtausend nach Gründung gedenken die Bürger der einst so stolzen Stadt im Mittleren Westen Amerikas ihrer von Franzosen geprägten Anfänge im Jahr 1764. Allein, die Zeichen stehen nicht auf zufriedenes Zurückblicken. Eher deutet sich ein Trauergottesdienst mit unterdrückter Wut in der Heimatstadt der kürzlich verstorbenen und von Präsident Obama verehrten Menschenrechtlerin Maya Angelou an. Seit in einem Vorort der Millionen-Metropole ein 18-jähriger Schwarzer auf dubiose Weise durch die Hand eines weißen Polizisten starb, toben die gravierendsten Rassen-Unruhen seit Jahren. Und kein Ende ist in Sicht.

Ferguson, das 21.000 Einwohner zählende Nest, sorgt seit der Erschießung von Michael „Big Mike“ Brown landesweit für mit Besorgnis und Bestürzung registrierte Schlagzeilen. Die jüngste Wendung: Weil weder die lokale Polizei noch die zur Beruhigung der Lage inthronisierte Highway-Patrol (Autobahnpolizei) unter ihrem charismatischen, afro-amerikanischen Chef Ron Johnson die eskalierenden Proteste und Plünderungen in den Griff bekommen haben, hat der Gouverneur des Bundesstaates Missouri am Montagmorgen verzweifelt die Nationalgarde herbeikommandiert.

Nationalgarde soll die Ausgangssperre durchsetzen

Dabei handelt es sich um eine Reserve-Einheit des regulären Militärs, die aus rund 450.000 Teilzeit-Soldaten gebildet wird. 330.000 Soldaten gehören zum Heer, der Rest untersteht der Luftwaffe. Die Nationalgardisten sind zunächst den Gouverneuren ihres jeweiligen Bundesstaates unterstellt. Meist werden sie dort bei Naturkatastrophen eingesetzt. Der Gouverneur kann der Nationalgarde in Krisensituationen aber auch Polizeivollmachten einräumen. Streitkräfte des Bundes dürften solche Aufgaben nach US-Recht im Inland nicht wahrnehmen.

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Die unterhalb der Streitkräfte schlagkräftigste Ordnungsmacht der USA soll nach den Worten von Jay Nixon unter den Regeln des verhängten Ausnahmezustandes in Ferguson vor allem die geltende und fortlaufend ignorierte Ausgangssperre durchsetzen. „Wir brauchen endlich Ruhe und Besinnung“, sagte der demokratische Politiker, der im Rang eines deutschen Ministerpräsidenten agiert. Aus heutiger Sicht ist das Wunschdenken.

Steinwürfe und Molotow-Cocktails, Tränengas, Schlagstöcke und Rauchbomben

Abgesehen von einer kurzen Phase der Entspannung am Donnerstag und Freitag liefern sich Hunderte Demonstranten, meist junge, wütende Afro-Amerikaner, Abend für Abend schwere Auseinandersetzungen mit der Polizei. Steinwürfe und Molotow-Cocktails der einen Seite, die regelmäßig „Keine Gerechtigkeit, kein Frieden“ skandiert, werden mit Tränengas, Rauchbomben und Schlagstöcken der anderen beantwortet. Vereinzelt kam es sogar zum Einsatz von Schusswaffen. Zwei Menschen wurden dabei teils schwer verletzt.

Bilder von den Straßenschlachten rund um die West Florissant Avenue dominieren seit Tagen in die Hauptnachrichtensendungen der großen Fernseh-Networks. „Bürgerkrieg“ ist dabei ein häufig benutztes Wort. Weil nach Angaben von Polizei, Anwohnern und Berichterstattern zunehmend „gewaltbereite Auswärtige“ nach Ferguson kommen, um als Trittbrettfahrer auf dem Protestzug mitzufahren und das Ausmaß an Plünderung und blinder Zerstörung in Restaurant und Geschäften immer größer wird, hat der Gouverneur die Reißleine gezogen. Die Konsequenzen sind ungewiss. „Niemand“, sagte am Montag ein Kommentator eines lokalen Radiosenders, „möchte sich ausmalen, was passiert, sollten Nationalgardisten in den nächsten Tagen marodierende Demonstranten erschießen“. Der Funke aus Ferguson könnte aufs ganze Land überspringen.

Demonstranten verlangen Inhaftierung des Todesschützen

Die Protestierenden, die sich nach der Tragödie als „Freiwild“ fühlen, verlangen unverändert die sofortige Inhaftierung des Todesschützen Darren Wilson (28), der den 1,95 Meter großen und 130 Kilogramm schweren Michael Brown am 9. August getötet hatte. Warum und wie - das ist bisher im Detail weiter unklar. Brown soll nach Angaben des örtlichen Polizeichefs den Beamten nach einem Disput körperlich attackiert haben, bevor die Schüsse fielen.

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Ein Freund des Opfers, der Augenzeuge Dorian Johnson, sagte dagegen in Vernehmungen durch die Bundespolizei FBI aus, er und Brown seien wegen des schieren Laufens auf der Straße von Wilson kujoniert worden. Der Beamte habe Michael Brown an Kopf und Kragen gepackt - und geschossen. Selbst als sich der bereits verwundete Schwarze ergeben und die Hände hoch gerissen habe, seien weitere Schüsse gefallen. Eine Schilderung, aus der die Anwälte der Familie des Opfers nur einen Schluss ziehen: „Es war eine Hinrichtung.“

Justizminister Holder ordnet dritte Autopsie Michael Browns an

Wie heikel der Fall geworden ist, zeigt die Anweisung von Justizminister Eric Holder, der am Sonntag eine dritte (!) Autopsie des Leichnams von Michael Brown angeordnet hatte. Die Obama-Regierung registriert seit Tagen, dass vor Ort das Vertrauen der mehrheitlich schwarzen Bevölkerung in eine vorurteilsfreie Klärung des Falles durch eine fast ausnahmslos weiße Polizei auf Null gesunken ist.

Dabei liegen erste entscheidende Fakten bereits vor. Wie Anwälte der Familie Browns Montag bestätigten, hat die erste Obduktion ergeben, dass der Schüler sechs Kugeln aus der Waffe von Officer Wilson abbekommen hat. Zwei davon in den Kopf, vier in den rechten Arm. Weil ein Kopftreffer in die Schädeldecke eingedrungen sei, wie die „New York Times“ berichtete, sei davon auszugehen, dass Browns Kopf in diesem Moment nach vorn gebeugt war.

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Zwischen Schütze und Opfer müssen zudem mehrere Meter gelegen haben, heißt es im Obduktionsprotokoll, weil an der Leiche keine Spuren von Schießpulver gefunden wurden. Gestern Mittag ließ sich Barack Obama in Washington über den aktuellen Sachstand unterrichten. Der Präsident, der von seinem Ferienort Martha's Vineyard an der Atlantikküste bereits zweimal zum Fall Brown Stellung genommen hatte, unterbrach wegen diverser Amtsgeschäfte seinen Urlaub.

Präsident Obama hat sich strenge Zurückhaltung auferlegt - doch der Druck wächst

Was ihm seine engsten Berater empfehlen werden, ist die große Frage. Obama hat sich nach vorherigen schlechten Erfahrungen mit allzu früher Parteinahme bei ähnlichen Fällen strenge Zurückhaltung auferlegt. Gleichzeitig wächst der Druck auf den ersten schwarzen Präsidenten der USA, für „seine“ Klientel in die Bresche zu springen und dem Recht wenigstens rhetorisch Geltung zu verschaffen.

Maßnahmen, die Druck aus dem Kessel nehmen könnten, liegen nach Einschätzung von Bürgerrechts-Organisationen auf der Hand. Thomas Jackson, der (weiße) sichtlich überforderte örtliche Polizeichef, der mit stigmatisierenden, irreführenden Angaben über einen Ladendiebstahl Michael Browns die jüngste Eskalation mit verursacht hat, müsse „sofort zurücktreten“. Gegen Darren Wilson, den an einen unbekannten Ort geflüchteten Todesschützen, müsse endlich Untersuchungshaft verhängt und ein ordentliches Gerichtsverfahren in Gang gesetzt werden. Darüber hinaus merken viele Kommentatoren an, müsse die Obama-Regierung Ferguson als „alarmierenden Weckruf“ verstehen, endlich die schleichende Entwicklung hin zu einem „schäbigen Polizeistaat“ zu stoppen.

Hintergrund: Sicherheitskräfte in vielen Städten und Gemeinden Amerika sind im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001 mit finanzieller Unterstützung Washingtons zu paramilitärischen Einheiten aufgerüstet worden. Ihr anfangs leichtfertiger Einsatz in Ferguson, angeführt durch Robocops und gepanzerte Fahrzeuge, wie man sie auf den Straßen von Kabul oder Kandahar in Afghanistan sieht, habe „maßgeblich zu der wütenden Trotzreaktion“ vieler Einwohner geführt, die in ihren Cops keine Helfer mehr sehen - sondern „Vertreter einer fremden Besatzungsmacht“.

Am schlimmsten drückt sich dies durch die Heimlichtuerei der Polizei aus, die sich tagelang geweigert hatte, den Namen des Todesschützen zu veröffentlichen, umso forscher aber die Aussagebereitschaft möglicher Augenzeugen einforderte. Findet David Simon. Der preisgekrönte Drehbuchautor der Kriminal-TV-Serie „The Wire“ war über zehn Jahre Polizei-Reporter in Baltimore, bis heute eine Hochburg der Drogen-Kriminalität. Zum Verhalten der Polizei in Ferguson fallen Simon in einem viel beachteten offenen Brief ernüchternde Worte ein: „Heuchelei“, „Feigheit“, „Unehrenhaftigkeit“.