Düsseldorf. . Mit dem Beginn des neuen Schuljahres sollen in NRW behinderte und nichtbehinderte Schüler in den Klassen 1 und 5 gemeinsam unterrichtet werden. Während das Schulministerium Optimismus verbreitet, sehen Lehrer und Eltern dieses neue Lernkapitel skeptisch. Man sei mangelhaft vorbereitet, sagen Lehrer.

Gut eine Woche vor Schuljahresbeginn wächst die Unsicherheit bei Lehrern, Eltern und Schülern. Erstmals gilt ein Rechtsanspruch auf Inklusion für behinderte Schüler in den Klassen 1 und 5 der Allgemeinschule. „Die Schulen fühlen sich schlecht vorbereitet“, klagt der Chef des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann. Dagegen bleibt Schulministerin Sylvia Löhrmann zuversichtlich, dass der Reformstart ins Ungewisse nach der Sommerpause klappt. Ein Hintertürchen hält sich Löhrmann vorsorglich offen: NRW will notfalls nachbessern, falls das gemeinsame Lernen der Schüler hakt.

Schon heute sitzt jeder dritte Schüler mit Förderbedarf mit Nichtbehinderten in einer Klasse. Das Schulministerium erwartet denn auch keinen Ansturm auf die Regelschulen und schätzt, dass nach der Sommerpause weniger als 10.000 Förderschüler zur Regelschule wechseln. 2014 stehen zusätzlich rund 1000 Lehrer für das gemeinsame Lernen bereit. Bis zum Schuljahr 2017/18 sollen schrittweise 3200 neue Lehrerstellen geschaffen werden. Unter dem Strich investiert das Land eine Milliarde Euro in die Reform der schulischen Inklusion.

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Von Wilfried Goebels

Experten halten gemeinsames Lernen für Fiktion

CDU-Schulexperte Klaus Kaiser warnt trotz des Kraftakts vor einem „verantwortungslosen Experiment“. Behinderte Schüler würden in kaum vorbereitete Allgemeinschulen gesteckt mit der Folge, dass Lehrer, behinderte und nicht behinderte Schüler überfordert würden. Nicht wenige Eltern zweifeln, dass die spezielle Förderung von Förderschülern an Regelschulen gelingt. Andere halten das gemeinsame Lernen schlicht für eine Fiktion, wenn in einer Klasse nebeneinander in zwei Geschwindigkeiten unterrichtet wird. Kaiser erwartet einen kräftigen Sog zur Privatschule, weil Eltern die Lehrqualität an öffentlichen Schulen zusätzlich gefährdet sähen. Schon heute landen NRW-Schüler in Pisa-Lernstudien fast routinegemäß auf hinteren Plätzen.

Der Landeschef des Philologenverbandes, Peter Silbernagel, bemängelt, dass die Inklusion an vielen Schulen nicht professionell umgesetzt wird. „Das kann gut laufen, muss aber nicht.“ Silbernagel vermisst klare Vorgaben und Standards. Sinnvoll wären danach Inklusionsklassen mit nur maximal 20 Schülern, davon fünf Inklusionsschülern. Außerdem müsse es generell eine Doppelbesetzung mit einem Allgemein- und Sonderpädagogen geben, fordert Silbernagel. Das allerdings würde aus Sicht der Gewerkschaft GEW 7000 zusätzliche Lehrerstellen erfordern. Wunsch und Wirklichkeit: In der Praxis müssen Schulen oft mit nur einem Sonderpädagogen auskommen.

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Bund soll Integrationshelfer finanzieren

Weil viele der 700 Förderschulen die Mindestgröße von 144 Schülern nicht erreichen, müssen Eltern, die ihre Kinder nicht zur Regelschule schicken wollen, bald weite Wege in Kauf nehmen. Für VBE-Chef Beckmann hört die Wahlfreiheit der Eltern bei einer Stunde Fahrtzeit aber auf. Im Ministerium hält man die Sorge, dass zum neuen Schuljahr jede dritte Förderschule vor dem Aus steht, für unbegründet. Erstens müssten Schulen und Kommunen den Anpassungsprozess erst 2015/16 umsetzen, außerdem seien Fusionen von Förderschulen möglich. „Am Ende hängt alles vom Wunsch der Eltern ab“, lässt Löhrmann mitteilen.

Im Schulalltag soll das gemeinsame Lernen durch vom Bund finanzierte Integrationshelfer erleichtert werden. Für Hilfen beim Toilettengang und den Umgang mit Geräten sollen die Helfer behinderten Kindern in der Klasse zur Seite stehen. Dabei ist klar, dass längst nicht alle schwerbehinderten Schüler in eine Regelschule wechseln werden, weil die spezielle Förderschule für Lernschwache, Blinde, Gehörlose oder Schwerstbehinderte oft besser auf deren Bedürfnisse zugeschnitten ist. Außerdem steht im Inklusionsgesetz, dass zunächst die personellen und sächlichen Voraussetzungen an einer Regelschule vorhanden sein müssen, bevor der Rechtsanspruch auf gemeinsames Lernen gilt. Da bleibt noch viel Spielraum.

Große Verunsicherung

Die Vorsitzende des Elternvereins NRW, Regine Schwarzhoff, fürchtet aber schon jetzt, dass behinderte und nicht behinderte Kinder durch das gemeinsame Lernen Nachteile in der Betreuung und Förderung erleiden werden. Auch CDU-Schulexpertin Petra Vogt sorgt sich, dass das funktionierende System der Förderschulen teilweise zerschlagen wird, ohne zu wissen, ob die inklusive Schule klappt. Viele Lehrer und Eltern seien stark verunsichert. Ministerin Löhrmann ist bei allen Vorbehalten gewohnt optimistisch. Schließlich zeigten die Erfahrungen inklusiver Schulen, dass vom gemeinsamen Lernen alle Schüler profitierten.