Kairo/Erbil. . Terroristen des „Islamischen Staats“ nehmen immer mehr Städte im Nordirak ein. Das bringt neben Kurden und Jesiden nun auch die christliche Minderheit im Irak in tödliche Gefahr. Der Papst beschwört die internationale Gemeinschaft, den drohenden Völkermord zu verhindern.

Yohanna Petros Moshe ist außer sich. „Ich bin am Boden zerstört und verzweifelt. Mit so etwas habe ich nicht gerechnet. Nie.“ Noch vor wenigen Tagen hatte der syrisch-katholische Erzbischof von Mossul in Karakosch dankbar erzählt, dass die kurdische Peschmerga-Miliz die Christen beschütze. Jetzt sind die kurdischen Soldaten geflohen und haben am Mittwoch und in der Nacht zu Donnerstag zahlreiche christliche Städte im Nordirak kampflos den Terroristen vom „Islamischen Staat“ überlassen. Karakosch, die Christenhochburg 30 Kilometer östlich von Mossul mit ihren 30 000 Einwohnern. Bartella, Tel Kef, Karamlesch.

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„Um vier Uhr morgens sind sie gekommen. Ich habe sie auf den Straßen Allahu Akbar rufen hören, Gott ist groß“, berichtet Moshe am Telefon. Er hat sich in letzter Minute nach Erbil gerettet, in die Hauptstadt der autonomen Kurdenregion. Zehntausende sind dorthin geflüchtet. „Die Menschen schlafen auf der Straße, in Schulhöfen. Wir brauchen Hilfe.“ Auch in Erbil gehen Angst und Panik um. „Die IS-Brigaden rücken in alle Richtungen vor“, berichteten Augenzeugen und sprachen von einer „dramatischen Situation“.

Schon mindestens 30.000 Gotteskrieger

Inzwischen stehen die Verbände der islamischen Extremisten 40 Kilometer vor Erbil im Grenzgebiet zum kurdischen Nordirak. An allen Fronten drängten die Gotteskrieger, denen mittlerweile mindestens 30.000 Mann angehören, die kurdischen Peschmerga zurück. Seit dem Sturz Saddam Husseins stehen die irakischen Christen unter massivem Druck, Hunderttausende sind bereits ins Ausland gegangen.

Eine solche Tragödie wie jetzt haben sie aber noch nicht durchleiden müssen. In Rom beschwor Papst Franziskus die internationale Gemeinschaft, die schutzlosen Menschen nicht im Stich zu lassen. Sämtliche Kirchen in den eroberten Städten wurden von den Extremisten entweiht, die Kreuze heruntergerissen, Bibliotheken mit wertvollen Manuskripten zerstört.

Frauen und Töchter als Geiseln verschleppt

Vor den Christen hatten die Gotteskrieger am letzten Wochenende bereits 200 000 Jesiden aus der Region Sindschar westlich von Mossul in die Flucht getrieben, von denen sich Zehntausende ohne Wasser und Essen in den Bergen vor den Angreifern verstecken. Etliche sollen verdurstet sein. Bei einem Massaker sollen bis zu tausend Männer erschossen, ihre Frauen und Töchter als Geiseln nach Mossul verschleppt worden sein, um sie zu Ehen mit Dschihadisten zu zwingen.

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Weder die kurdischen noch die irakischen Streitkräfte scheinen den Gotteskriegern vom „Islamischen Staat“ bisher gewachsen, die in den letzten Wochen in Syrien und im Irak große Mengen an modernen Waffen, Panzern und Fahrzeugen erbeuten konnten. Die kurdische Regionalregierung von Erbil richtete angesichts der Eskalation einen dringenden Appell an „die Vereinigten Staaten, die internationale Gemeinschaft und an alle Feinde des Terrorismus“, sie mit Luftangriffen und Waffenlieferungen im Kampf gegen die Dschihadisten zu unterstützen.

Flugzeuge bringen moderne Waffen

Frankreich forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Nach Augenzeugenberichten landeten Anfang der Woche erste Transportmaschinen mit modernen westlichen Panzern und Artilleriegeschützen auf dem Flughafen von Erbil, die sofort auf Tiefladern in Richtung Front gefahren wurden.

„Die nationale Regierung ist unfähig, das Volk zu verteidigen, genauso wie die kurdische Regierung“, so der chaldäische Patriarch Louis Sako. In einer dramatischen Botschaft appellierte das Oberhaupt der irakischen Christen „an alle Menschen guten Willens“, denen zu helfen, die in tödlicher Gefahr seien. „Ich hoffe“, fügte Sako hinzu, „es ist noch nicht zu spät, einen Völkermord zu verhindern.“