Düsseldorf. . Funktionale Analphabeten können zwar einzelne Wörter lesen, schaffen es aber nicht, kurze Texte zu erfassen. Vor allem im Berufsleben sind sie mit diesem Handicap zunehmend ausgegrenzt. Ein regionales Netzwerk bietet Hilfe an - und will nun seinen Feldzug fürs Alphabet deutlich verstärken.
Arbeitsberater kennen die Signale und können sie deuten. Der junge Mann, der im Job-Center sitzt, berichtet von häufigem Fehlen während seiner Schulzeit, von desinteressierten Eltern, von Lehrern, die sich nicht gekümmert hätten. Beiläufig erzählt er noch, seine Handschrift sei kaum zu lesen und Arbeiten am Computer nichts für ihn. Oft wirkt der Kunde, der um eine Stelle nachsucht, angespannt oder ängstlich. Hinter der Fassade versteckt sich nicht selten ein „funktionaler Analphabet“ – einer von rund 1,5 Millionen in NRW.
Sie alle verbindet ein Schicksal: sie können zwar einzelne Wörter, manchmal Sätze lesen oder schreiben, schaffen es aber nicht, selbst kurze Texte zu erfassen. Das ist weniger als die Gesellschaft verlangt. Da sie sich schämen, sprechen sie ihr Manko nicht an, meiden Situationen, in denen es entdeckt werden könnte. „Ich habe meine Lesebrille vergessen“, lautet ein typischer Satz. „Wer betroffen ist“, sagt Ulrike Kilp, „versucht Strategien des Verbergens zu entwickeln.“
Bundesweit sind 7,5 Millionen betroffen
Kilp leitet das zu Jahresbeginn in NRW gegründete „Alphanetzwerk“. Sie arbeitet daran, ein Tabu aufzubrechen. Eine Studie der Uni Hamburg schreckte vor drei Jahren mit dem Ergebnis auf, dass bundesweit 7,5 Millionen Menschen funktionale Analphabeten sind. Von ihnen besuchen nur 20 000 einen Kurs. 80 Prozent haben einen Schulabschluss, etwa zwei Drittel sind erwerbstätig. Jetzt soll an Rhein und Ruhr, von vielen noch unbemerkt, der Feldzug für das Alphabet verstärkt werden.
Aus der Anonymität holen
Es ist auch der Versuch, Menschen aus der Anonymität zu holen. Fachleute halten es für immer schwieriger, mit einer ausgeprägten Lese- und Schreibschwäche durchzukommen. „Erwerbstätige sind immer von Arbeitslosigkeit bedroht, weil sie ständig an ihre Grenzen stoßen“, sagt Ulrike Kilp. Die kommissarische Chefin des Volkshochschulverbands erwähnt die Angestellte einer Reinigungsfirma, die keine Gebrauchsanleitung lesen kann und deshalb sogar die Gesundheit von Menschen aufs Spiel setzt. Oder den hilflosen Mitarbeiter, der in einer digitalisierten Arbeitswelt nicht weiß, wie er eine Maschine bedienen soll.
Mit der Initiative will das Land betroffene Bürger „in der Schule, am Arbeitsplatz oder im Verein erreichen und ermutigen“ – das ist das Ziel, das Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) ausgegeben hat. Das „Alphanetzwerk“ tragen alle Fraktionen im Landtag mit. Bereits 100 Mitglieder unterstützen das Bemühen, Kurse und Hilfsprojekte regional zu verankern: Unternehmerverbände, Kirchen, Gewerkschaften – oder die Verbraucherberatung. „Wir wollen Kunden, die auf Augenhöhe agieren und die Verträge erfassen, die sie unterschreiben“, sagt Marina Steiner, Leiterin der Verbraucherzentrale in Duisburg.
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Inzwischen haben sich 12 lokale Netzwerke gegründet, etwa in Bochum, Duisburg, Wuppertal, Köln oder dem Kreis Wesel. In Dortmund ist es in Vorbereitung. Die Kommunen im Kreis Unna wollen mehr Geld für Alphabetisierung und Grundbildung in ihren Etats bereitstellen. Einige Firmen erproben für ihre Beschäftigten Modellversuche mit Alphabetisierungskursen. Bisher lief das Kursangebot fast ausnahmslos über knapp 100 Volkshochschulen in NRW, die damit aber überfordert sind.
Klagen der Firmenchefs
Auch in der Lehrerausbildung soll das Thema stärker verankert werden. Statistiken zeigen, wie groß der Reparaturbedarf ist. Allein beim Übergang von der Schule in den Beruf gibt es nach einer Studie 30 Prozent funktionale Analphabeten. Firmenchefs klagen, dass sie die Schlüsselkompetenzen Lesen, Schreiben und Rechnen nicht beherrschen. 60 Prozent aller Betroffenen sind Männer, ein Drittel ist älter als 50 Jahre. Jeder Zweite lebt mit Kindern unter einem Dach.
„Es ist das Bohren dicker Bretter“, sagt Ulrike Kilp. Das gilt nicht zuletzt für die Finanzierung. NRW fördert das Netzwerk in diesem Jahr mit 70 000 Euro – was sicher ausbaufähig wäre. Immerhin: für die Alphabetisierung von Sträflingen im Knast will das Land jährlich 240 000 Euro ausgeben.