Washington. . Amerika hat an seiner Südgrenze mit einer nie dagewesenen Welle minderjähriger Einwanderer zu kämpfen. Seit Oktober 2013 haben 70.000 Kinder und Jugendliche versucht, illegal von Mexiko in die USA zu gelangen. In der Hoffnung auf ein besseres Leben nehmen sie große Strapazen und viel Leid in Kauf.

Ihr Bruder stirbt vor drei Jahren im Kugelhagel einer Drogen-Gang. Anna ist 16. Sie will leben. Vor vier Monaten trägt das Mädchen in ihrem Heimatdorf in Honduras ihre Ersparnisse zusammen. Danach macht sie sich auf den Weg gen Norden. Sechseinhalb Wochen ist sie unterwegs. Quer durch Mexiko. In Bussen, auf Lkw-Ladeflächen, Zugdächern, zu Fuß. Über 3000 Kilometer. Allein.

In einem abgelegenen Tal wird Anna mehrfach vergewaltigt. Als die Peiniger von ihr ablassen, nimmt das schwer verletzte Mädchen ihre letzten Kräfte zusammen. Und bringt mit aufgeblasenen Autoschläuchen überm Wasser die letzten Meter hinter sich. Auf der texanischen Seite des Rio Grande Valley sinkt der Teenager Grenzbeamten in die Arme.

Die Odyssee, von der Anna Reportern in einem Auffanglager erzählt hat, ist tausendfach austauschbar. Amerika hat an seiner Südgrenze mit einer so noch nicht dagewesenen Welle minderjähriger Einwanderer zu kämpfen.

Seit Oktober 2013 haben rund 70 000 Kinder und Jugendliche versucht, von Mexiko in die USA zu gelangen. Vor drei Jahren wurden gerade einmal 6800 Youngster bei dem Versuch der illegalen Einreise festgenommen. Bis Jahresende wird die Zahl bei 90 000 liegen. „2015 werden es 140 000 sein“, schätzt das Heimatschutzministerium, „wenn nichts geschieht.“ Aber was soll geschehen?

Ausländerfeindliche Demonstrationen gegen die Illegalen haben die Politik in Wallung gebracht. Hunderte Heimatschützer sind aus dem Inland an die Südflanke beordert worden. Entlang der Grenze werden fast im Wochentakt neue Übergangslager eröffnet, um die Neuankömmlinge unterzubringen, bis über ihren Verbleib oder ihre Abschiebung entschieden ist. Die Mühseligen und Beladenen treffen auf ein Klima der Militarisierung.

Südgrenze soll für rund vier Milliarden Dollar nachgerüstet werden

Die Obama in Feindschaft verbundenen Republikaner treiben die um den Wahltermin im Kongress im November fürchtenden Demokraten in einem Überbietungswettbewerb vor sich her. Wer kann härter gegen die „migrantes“ vorgehen? Im Moment liegt Texas vorn. Dort wird bald die Nationalgarde gegen die Flüchtlinge eingesetzt. Die bereits heute mit Mauern und Zäunen, elektronischen Detektoren, Reiterstaffeln, Luftüberwachung und 20.000 Beamten verrammelte Südgrenze soll technisch für rund vier Milliarden Dollar nachgerüstet werden. Obama selbst hat das Geld beantragt. Ein Aufschrei von Bürgermeistern und Gouverneuren zwischen Arizona und Kalifornien, die mit dem Ansturm nicht mehr fertig werden, haben den Präsidenten zum Handeln gezwungen. Vieles riecht nach Aktionismus.

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Erst am Freitag hatte Obama den Regierungschefs der Hauptverursacher-Länder Guatemala, El Salvador und Honduras 300 Millionen Dollar Notfall-Hilfe in Aussicht gestellt. Unter der Voraussetzung, dass sie die Menschen vom Marsch gen Norden abhalten und ihre innenpolitischen Miseren in den Griff kriegen: Armut, Korruption, Gewalt. Jeder weiß, der Appell wird verhallen. Das Geld ist nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein. Wer kann, will nach Amerika gehen. Aber Amerika will nicht.

„Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen“. Die Worte der Dichterin Emma Lazarus, die seit 1886 auf einer Bronzetafel am Sockel der Freiheitsstatue in New York stehen und zu den Gründungsmythen der USA gehören, zählen nicht mehr viel. In Zeiten von Arbeitslosigkeit und wachsender Unsicherheit wird das Fremde den Nachkommen von Wirtschaftsflüchtlingen, Abenteurern und Verfolgten zur Bedrohung.

"Flucht ist hier reine Überlebensmethode"

Trotzdem kommen immer mehr. Das UN-Flüchtlingskommissariat und die US-Bischofskonferenz wissen warum. Sie haben Hunderte Mädchen und Jungen gefragt, die Kidnapper, Klapperschlagen, Durst, Gewalt, Erpressung, Hitze und Kälte überlebt und den Sprung über die Grenze geschafft haben. Nicht das Streben nach Wohlstand sei das erste Motiv. „Flucht ist hier reine Überlebensmethode.“

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Gerade in ländlichen Gegenden haben an Drogen-Kartelle angedockte Banden das Sagen. Sie regieren mit talibanischem Furor. Erst schießen. Oder foltern. Dann fragen. Lokale Autoritäten schauen weg oder machen mit den Gangs gemeinsame Sache. Diego, ein 15-Jähriger aus El Salvador, sagt es so: „Die Großmutter riet mir: Geh fort! Wenn du dich weigerst, wird dich die Gang erschießen. Wenn du bei denen mitmachst, wird dich die verfeindete Gang erschießen. Oder die Polizei. Nur wenn du es nach Amerika schaffst, bist du sicher.“ Jedenfalls vorübergehend.

Minderjährige aus zentralamerikanischen Staaten müssen nach dem Gesetz wie Flüchtlinge behandelt werden. Binnen 72 Stunden haben die Grenzbeamten sie der zuständigen Agentur des Gesundheitsministeriums zu übergeben. Deren Aufgabe ist es, Verwandte in den USA ausfindig zu machen, was in 40 Prozent aller Fälle gelingt, oder die Ankömmlinge bis zum Abschluss eines Gerichtsverfahrens in Auffanglagern zu beherbergen. Das kann dauern. Vor den US-Einwanderungsgerichten sind 380 000 unerledigte Fälle anhängig. Viele Betroffene schlagen sich allein zu Verwandten durch. Und reihen sich ein in das Niedriglohn-Arbeitsherr der zwölf Millionen Illegalen, ohne die es vielen Wirtschaftszweigen das Rückgrat brechen würde.

In der Wüste verdurstet

Für die Aussicht auf ein spießrutenlaufartiges Leben in der Illegalität gehen gerade die jungen Flüchtlinge ungeheure Risiken ein. Cecilia Munoz, Obamas Direktorin für Einwanderung: „Bei ihrer Irrfahrt nach Amerika machen viele grauenhafte Erfahrungen.“ Das Schicksal von Cipriana Juarez Diaz ist nur ein Beispiel unter vielen. Wochenlang hatte die Bäuerin aus den Cuchumatanes-Bergen in Guatemala ihren Sohn Gilberto Ramos angefleht: „Bitte geh‘ nicht!“ Der Junge machte sich trotzdem auf den Weg nach Amerika. Gilberto wollte dort Arbeit finden, um bessere Medikamente für seine an Epilepsie leidende Mutter zu kaufen. In der texanischen Wüste wurde seine Leiche gefunden. Verdurstet. Er war 15.