Budapest. Der Umgang der ungarischen Regierung mit der Geschichte empört Historiker und Antifaschisten. Holocaust-Überlebenden macht er Angst. Jüngster Auslöser ist ein umstrittenes Denkmal.

Alice Fried ist 72 Jahre alt, ihr Arzt rät zu einem Herzschrittmacher. Dennoch will die zerbrechlich wirkende Budapester Dame jetzt nach Israel auswandern. Dass es dort alles andere als friedlich zugeht, kümmert sie scheinbar nicht. "Langsam habe ich hier in Budapest mehr Angst als ich sie in Israel hätte", sagt sie. Sie habe schon eine Wohnung irgendwo an der Grenze zum Libanon in Aussicht.

Fried gehört zu den etwa 100.000 Juden Ungarns. Vor allem die ältere Generation, die den Holocaust miterlebt hat, ist empört über das neue Denkmal, das in Erinnerung an die Besatzung Ungarns durch Nazi-Deutschland 1944 nun auf Betreiben der rechtsnationalen Regierung errichtet wurde.

Im Rucksack vor den ungarischen Nazis versteckt

Fried, Antifaschistenverbände, Historiker und die links-liberale Opposition kritisieren das Denkmal, weil es ihrer Ansicht nach Ungarns Mitverantwortung am Holocaust ausklammert und somit die Geschichte verfälscht. Das Objekt stellt einen deutschen Reichsadler dar, der das "unschuldige" Ungarn in Gestalt eines Erzengel Gabriel angreift.

"Nicht die Deutschen, sondern die Ungarn haben meine Familie auf dem Gewissen", sagt Alice Fried. Sie hat ihr Leben ihrer geistesgegenwärtigen Großmutter zu verdanken, mit der sie seit November 1944 im Budapester Ghetto lebte. Als die Pfeilkreuzler (ungarische Nazis) dort im Februar 1945 anrückten, um Juden abzuführen, steckte die Großmutter die damals knapp zweijährige Alice in einen Rucksack. Gott sei Dank gab das Kind dort keinen Laut von sich.

Allabendliche Proteste vor Denkmal-Baustelle

"Man sagt, ich sei ein sehr braves Kleinkind gewesen", sagt Alice. Der Rucksack blieb im Ghetto, aber die Großmutter wurde gemeinsam mit vielen anderen Juden zum Donauufer getrieben und dort erschossen. Dies geschah drei Tage vor der Befreiung Budapests durch die sowjetische Rote Armee. Alice kam in ein Kinderheim, wo sie zwei Jahre später von ihrer Mutter gefunden wurde, die Auschwitz überlebt hatte. Ihr Vater kam 1942 an der ukrainischen Front ums Leben, wo er als jüdischer Zwangsarbeiter Minen entschärfen musste.

Mehr als drei Monate lang haben Antifaschisten fast jeden Abend an der Baustelle gegen das umstrittene Denkmal protestiert. Die jeweils etwa 100 Demonstranten waren vor allem Rentner. Viele legten dort kleine Kieselsteine zum Gedenken ab, sie stellten Kerzen auf und hinterließen Fotos, Kopien von Dokumenten und persönliche Gegenstände.

Komplizierte ungarische Holocaust-Geschichte

Haupt-Organisatoren der Proteste waren Fruzsina Magyar und ihr Mann Imre Mecs, Ungarns bekanntester noch lebender Freiheitskämpfer. Wegen seiner Teilnahme am antisowjetischen Ungarn-Aufstand 1956 wurde der heute 80-jährige Mecs sogar zum Tode verurteilt, die Strafe wurde später in Haft umgewandelt.

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Ungarns Holocaust-Geschichte ist kompliziert. Gesetze gegen Juden gab es schon seit den 1920er Jahren. Das Land war mit Nazi-Deutschland verbündet, als deutsche Truppen dort am 19. März 1944 einmarschierten, weil Berlin befürchtete, dass Budapest abtrünnig werden könnte. Von den rund 600.000 ungarischen Holocaust-Opfern wurden 437.000 nach dem deutschen Einmarsch deportiert, binnen sieben Wochen. Historikern zufolge wäre dies ohne massive Mithilfe ungarischer Beamter gar nicht möglich gewesen, ohne Druck aus Berlin aber auch nicht.

Orban: Denkmal sei "allen Opfern" gewidmet

Nach Ansicht von Ministerpräsident Viktor Orban handelt es sich um "kein Holocaust-Denkmal". Es gehe nur darum, an den Verlust von Ungarns Souveränität durch den deutschen Einmarsch zu erinnern. Es sei "allen Opfern" gewidmet, schrieb Orban. Geplant wurde das Denkmal aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Alice Fried braucht für ihre Auswanderung nach Israel nur noch ein polizeiliches Führungszeugnis aus Ungarn. Ob sie das bekommt, ist fraglich, denn jüngst erhielt sie einen Bescheid über ein Bußgeld in Höhe von 50.000 Forint (rund 166 Euro), weil sie gemeinsam mit anderen Antifaschisten die Baustelle für das Denkmals besetzt hatte. Der Betrag macht etwa die Hälfte ihrer Rente aus. Wenn sie nicht bezahlt, droht ihr Gefängnis. (dpa)