Brüssel. . Christine Lagarde aus Frankreich und Helle Thorning-Schmidt aus Dänemark könnten an die Spitze derEU-Kommission rücken. Doch die Lage ist unübersichtlich. Denn eigentlich gilt Jean-Claude Juncker als erster Anwärter auf diesen Job. Aber die Briten wollen ihn nicht. Eine Analyse.
Die englische Tageszeitung „The Sun“, nicht eben bekannt für differenzierte Argumentation, erklärte Jean-Claude Juncker diese Woche zum „gefährlichsten Mann Europas“. Aus Sicht des britischen Premierministers David Cameron ist das nur leicht übertrieben – hatte er doch auf dem EU-Gipfel letzte Woche für den Fall der Kür Junckers zum künftigen Chef der EU-Kommission indirekt mit dem EU-Austritt des Königreichs gedroht. D
oppelzüngigkeit kann ihm keiner vorwerfen – im Unterschied zu den anderen konservativen Regierungschefs hat er sich nie hinter die Bewerbung des christdemokratischen Spitzenkandidaten Juncker gestellt.
Die Kanzlerin will ein Paket schnüren
Die krawallige Stimmung auf der britischen Insel ist aber nur ein Aspekt in der unübersichtlichen europäischen Gemengelage um die Nachfolge des scheidenden Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso. Und die sieht – grob skizziert – so aus: Das EU-Parlament will den bei der Europawahl siegreichen Spitzenkandidaten Juncker; Cameron in London und drei, vier andere Regierungschefs wollen den Luxemburger auf keinen Fall.
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Der Bundeskanzlerin wiederum, ohne die in der EU nichts läuft, wäre der selbstbewusste Ex-Kollege an der Spitze des mächtigen Brüsseler Apparats ebenfalls unbehaglich, doch sie steht bei Juncker im Wort. Zugleich tadelt Angela Merkel jene, die der Gedanke an ein Ausscheiden Großbritanniens aus dem europäischen Verbund angeblich gleichgültig lässt, als „grob fahrlässig“. Wie das zusammenkommen soll – für Juncker, aber nicht gegen Großbritannien – deutet die Kanzlerin nur an. Sie wolle sich erstmal auf die inhaltliche Seite konzentrieren, um „aus den unterschiedlichen Akzenten ein Paket zu schnüren“, sagte Merkel nach dem G-7-Treffen gestern in Brüssel.
Merkel in der Zwickmühle
Als mögliche Kompromisslinie werden nun in Brüssel zwei Namen gehandelt. Könnten Christine Lagarde, die französische Chefin des Internationalen Währungsfonds, oder die dänische Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt der Bundeskanzlerin aus der Zwickmühle helfen?
Beide Damen gelten als kompetent, sind elegante Erscheinungen und wirken auch politisch frischer als der eben erst als Luxemburger Regierungschef abgewählte Europa-Veteran Juncker. Außerdem hätte die EU damit wenigstens einen ihrer Topjobs mit einer Frau besetzt.
Allerdings gibt es in beiden Fällen gewichtige Gegen-Gründe: In Paris hat Präsident Francois Hollande Frankreichs Sitz in der EU-Kommission seinem sozialistischen Parteifreund Pierre Moscovici versprochen. Ob er stattdessen die Konservative Lagarde unterstützen würde, ist fraglich. Die Sozialdemokratin Thorning-Schmidt wiederum ist vielen europäischen Genossen als „Boutiquen-Sozialistin“ verdächtig. Auch wenn sie nicht Kommissionschefin, sondern etwa Nachfolgerin Herman van Rompuys als Vorsitzender des Europäischen Rates würde, bliebe die Forderung der Sozialdemokraten nach einem herausgehobenen Posten für ihren Spitzenmann von der Europawahl, Martin Schulz, offen.
„Mister Europa-Parlament“
Martin Schulz wäre zwar gegebenenfalls bereit, für eine volle fünfjährige Amtszeit als „Mister Europa-Parlament“ die Leitung der EU-Volksvertretung in Straßburg zu übernehmen; dafür die nötigen Stimmen der Christdemokraten zu besorgen, wäre indes ein Kunststück – vielen Konservativen waren schon zweieinhalb Jahre Schulz als Parlamentspräsident zu viel.
Der scheidende Ratschef Herman van Rompuy hat nun die Aufgabe, das schwierige Terrain zu sondieren. Klar scheint: Jean-Claude Juncker hat wohl aktuell gute Chancen auf den Top-Job in Brüssel. Am Ziel ist er aber noch längst nicht.