Essen. Der Sturm der Alliierten auf Hitlers „Festung Europa“ machte die Nazis zu Verlierern. Das grausame Gemetzel an der französischen Küste markierte den Anfang vom Ende des 2. Weltkrieges. Die deutschen Soldaten wurden vom Zeitpunkt des Angriffs der größten Armada aller Zeiten völlig überrascht.

„Die langen Seufzer der Violinen des Herbstes verzehren mein Herz mit ihrer monotonen Schläfrigkeit.“ Wer am Abend des 5. Juni die BBC eingeschaltet hat, der hört Poetisches aus dem Lautsprecher krächzen. Doch in der französischen Résistance haben sie keinen Sinn für Poesie in jener Nacht. Die zweite Zeile aus dem „Herbstlied“ des Dichters Verlaine ist eine verschlüsselte Nachricht dafür, dass die Invasion unmittelbar bevorsteht und der Widerstand lange geplante Sabotageakte ausführen soll.

Die deutsche Abwehr weiß das. Aber so schnell, glaubt sie, werden sie dann doch wohl nicht kommen, die Alliierten, die sich jenseits des Ärmelkanals seit Monaten darauf vorbereiten, die von Hitler deklarierte „Festung Europa“ zu stürmen. Starker Wind peitscht dunkle Wolken über die Küste Frankreichs, vor der Normandie brechen sich bis zu fünf Meter hohe Wellen am Strand. Invasion? Bei diesem Wetter?

Die Allierten haben Wetterstationen im Atlantik - Rommel nicht

Unmöglich. Selbst Generalfeldmarschall Erwin Rommel, Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B in Nordfrankreich, fährt ins heimatliche Herrlingen bei Ulm, um seiner Frau Lucie-Maria zum Geburtstag zu gratulieren – nicht ahnend, dass das Wetter in den nächsten Stunden umschlägt. Die Alliierten wissen es. Anders als die Deutschen haben sie Wetterstationen im Atlantik.

Auch bei den Soldaten der in der Normandie stationierten 7. Armee herrscht Geschäftigkeit. „Wir haben Schützengräben ausgehoben und Befestigungsanlagen verstärkt“, erinnerte sich der 2005 verstorbene Franz Gockel aus Hamm kurz vor seinem Tod im Gespräch mit dieser Zeitung. Seit Dezember 1943 ist der damals 17-Jährige nach Coleville abkommandiert. „Von einigen Jagdbomber-Angriffen abgesehen, ist es ruhig hier“, schreibt er in die Heimat. Doch in dieser Nacht ist es mit der Ruhe vorbei.

Tausende Schiffe und Boote kommen fast unbemerkt durch schwere See

In der Nacht wird Gockel von lauten Schreien geweckt. „Schon wieder eine Übung“, denkt er. Doch dann betritt ein Offizier den Raum: „Kerls, es wird ernst, sie kommen.“

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Gockel und seine Kameraden hasten in ihre Stellungen. 16 so genannte Widerstandnester (WN) haben sie an ihrem Abschnitt gebaut. Der Westfale sitzt an einem Maschinengewehr im größten davon. Im WN2, an einem Strand, den die Amerikaner in ihren Invasionsplänen „Omaha Beach“ nennen. Sehen kann er von seinem Platz zunächst nichts. Aber Gefechtslärm ist zu hören. Melder berichten von Tausenden alliierten Fallschirmjägern, die hinter den feindlichen Linien gelandet sind. „Operation Overlord“ hat begonnen.

Erst kommen die Granaten, dann die Landungsboote

Als der Morgen graut, traut Gockel seinen Augen nicht. „Da waren mehr Schiffe am Horizont, als wir Soldaten hatten.“ Es ist tatsächlich die größte Armada aller Zeiten, die da unbemerkt von der deutschen Aufklärung den Kanal überquert hat. Eine Armada aus 6480 Booten und Schiffen, darunter 4126 Landungsboote, stampft in der Morgendämmerung durch die schwere See Richtung Normandie. Hunderte Zerstörer, Schlachtschiffe und Kreuzer nehmen ihre Positionen ein. Dann beginnt für die deutschen Landser ein Inferno.

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Bomber der Briten und Amerikaner werfen ihre Fracht über ihnen ab, unzählige Geschütze nehmen sie von See aus unter ein mörderisches Trommelfeuer. Gockel zieht den Kopf ein und beginnt „immer wieder lauthals zu beten“. Kaum hat sich der Rauch der Kanonen verflüchtigt, rauschen die ersten Landungsboote heran. Der schwere Beschuss, so die Hoffnung der alliierten Führung, dürfte die gegnerischen Stellungen zerstört haben.

Kaum ein Soldat der ersten Angriffswelle überlebt

Anders als an den anderen Strandabschnitten erfüllt sie sich am Omaha Beach nicht. Wegen schlechter Sicht haben die meisten Bomber ihre Fracht weit im Hinterland abgeworfen. Und die Bordgeschütze haben den deutschen Stellungen keine großen Schäden zufügen können.

So haben sich die Landungsklappen der Boote noch nicht ganz geöffnet, da eröffnen rund 350 Deutsche das Feuer. „Man hat nicht groß nachgedacht“, so Gockel später. Zumindest nicht über Hitler und seine Befehle. „Der war uns völlig egal. Wir wollten nur überleben. Und eines war klar: Entweder die oder wir.“ Omaha Beach wird zur Hölle. Bald sind Strand und Dünung von Leichen übersät. Kaum ein US-Soldat der ersten Angriffswelle überlebt. Auch die zweite und dritte Welle müssen schwere Verluste hinnehmen. Gockel: „Wir konnten es nicht fassen. Sie sahen, wie ihre Kameraden starben, doch es kamen immer neue Boote.“ Erst nach Stunden gelingt der Einbruch in die deutschen Stellungen. Am Abend halten 150 000 alliierte Soldaten die fünf Landungsstrände. 8400 ihrer Kameraden sind tot.

Der längste Tag ist zu Ende.