Heppingen. Mit dem neuen Missbrauchsverdacht scheitert der Neuanfang der Odenwaldschule. Die Schulaufsicht zeigt die „gelbe Karte“ und setzt einen Katalog von Auflagen fest. Der Opferverband “Glasbrechen“ fordert die Schließung der reformpädagogischen Schule.

Es ist vier Jahre her, seit der Missbrauchsskandal in Deutschland tobte. Damals wurde die Dimension der Übergriffe in den 60er-, 70er- und 80er-Jahren bekannt. Was sich zunächst auf die katholische Kirche beschränkte, weitete sich auch auf evangelische und reformpädagogische Einrichtungen aus. Besonders die hessische Odenwaldschule, kurz OSO, ist der Öffentlichkeit im Gedächtnis geblieben – als Internat, wo mindestens 132 Kinder und Jugendliche den mitunter systematischen Übergriffen ihrer Lehrer und Erzieher ausgeliefert waren.

Nach Jahren der Aufarbeitung, runden Tische und Präventionsstrategien wird die Odenwaldschule seit letzter Woche von einem neuen Verdacht erschüttert. Zunächst ging es um einen Lehrer, der im Internet Kinderpornos heruntergeladen haben soll. Nun wurde der Verdacht bekannt, dass von besagtem Lehrer auch Übergriffe auf seine Schüler ausgegangen sein könnten. Von einer „Grenzverletzung in der Schüler-Lehrer-Beziehung“ ist die Rede.

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Von Birgitta Stauber-Klein

Der 32-jährige Chemie- und Physiklehrer ist bereits fristlos gekündigt, nun ermittelt obendrein die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen ihn, bestätigte deren Sprecher Noah Krüger. Was genau passiert sein soll – darüber schweigt Kröger allerdings. Nur so viel ist bekannt: Offenbar hat sich der Lehrer in der Vergangenheit „komisch“ verhalten, sagten einige befragte Schüler aus. Einer der Vorwürfe dreht sich um ein Zeltlager, bei dem der Lehrer gemeinsam mit einer zweiten Lehrkraft und rund zehn Schülern in einem Zelt übernachtet haben soll.

Nähe zwischen Lehrern und Schülern ist Experten Dorn im Auge

Solche gemeinsamen Übernachtungen gehören zum pädagogischen Konzept der Schule. Die Schülerinnen und Schüler wohnen auch im Alltag mit ihren Lehrern zusammen in 29 alters- und geschlechtsgemischten so genannten OSO-Familien. Mit Geborgenheit, Rückhalt, Hilfe oder Spaß begründet dieses Wohnkonzept die Schule auf ihrer Homepage. Und weiter: „Die Odenwaldschule ist eine freie Gemeinschaft, in der die verschiedenen Generationen unbefangen miteinander umgehen und voneinander lernen können.“

Doch gerade diese Nähe ist Experten ein Dorn im Auge. Das „Familienprinzip“ ermögliche eine direkte Einflussnahme auf „intimste Angelegenheiten“ der Schülerinnen und Schüler, so die Opferorganisation Glasbrechen. „Erwachsene mit übergriffigen Neigungen müssen sich geradezu eingeladen fühlen, sich an der Odenwaldschule als Lehrkraft zu bewerben“, heißt es in einer Stellungnahme.

Schulleitung muss ab sofort Bericht erstatten 

Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, forderte die Schule auf, „vor allem das aktuell dort gelebte Verhältnis von Nähe und Distanz zwischen Lehrern und Schülern dringend zu überdenken“.

Will die Schule überleben, bleibt ihr wohl nicht viel anderes übrig. Die Schulaufsichtsbehörde hat sich bereits eingeschaltet und die „gelbe Karte“ gezeigt. Nun muss die Schulleitung „ab sofort“ monatlich schriftlich und ausführlich über alle außergewöhnlichen Vorfälle den Aufsichtsbehörden berichten sowie das Betreuungskonzept überarbeiten.

Trotz der neuen Vorwürfe stehen die Eltern hinter dem Konzept. „Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass unsere Kinder an der OSO mindestens genauso sicher – eher noch sicherer – vor Übergriffen sind, wie sie dies an anderen Einrichtungen wären“, heißt es in einer Erklärung des Elternbeirates. Auch von der Schulleitung fühlen sich die Eltern bestens informiert.

„Die Schule ist nicht mehr zu retten“

Damit widersprechen sie dem Eindruck der Aufsichtsbehörden, die der Schulleitung unter Direktor Siegfried Däschler-Seiler Kommunikationsfehler vorgeworfen hatten. Dass die Schule erneut mit negativen Schlagzeilen konfrontiert werde, daran sei die „einseitige Medienberichterstattung schuld“. Vor allem Kritikern der Schule sei eine Plattform geboten worden. Tatsächlich wurden in der vergangenen Woche in der Presse Appelle laut, die Schule zu schließen. „Dies schadet den derzeit 197 Schülerinnen und Schülern“, so der Elternbeirat.

Am Mittwoch setzte die Organisation Glasbrechen nach: „Die Schule ist nicht mehr zu retten“, sagte der Vorsitzende Adrian Koerfer. Der stellvertretende Landrat Matthias Schimpf hält das für übertrieben, man wolle schließlich nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Allerdings: „Die gelbe Karte ist deutlich gezeigt worden.“