Essen. Der Europäische Gerichtshof hat die Vorratsdatenspeicherung gekippt. Eine gute Nachricht für Datenschützer, eine schlechte für die Polizei. Denn sie hat mit gespeicherten Telefondaten etliche Kriminalfälle gelöst, auch den des ermordeten Mirco. Hier sind sein Fall und fünf weitere Beispiele.
Die Speicherung von Verbindungsdaten der Telefone und des Internetverkehrs ist hoch umstritten. Der Europäische Gerichtshof hat sie jetzt erst einmal gekippt. Sie habe noch nie etwas gebracht, sagen Datenschützer wie der frühere Datenschutzbeauftragte der Bundesregierung, Peter Schaar. Stimmt das? Die Polizei an Rhein und Ruhr sieht das ganz anders. Nicht nur bei der Aufdeckung von Kinderpornografie will sie mit der Abfrage der Telefondaten erfolgreich gefahndet haben. Beispiele.
Der Fall der Duisburger Rentnerin
Duisburg, 17. Juli 2009. Wilhelmine P. aus Neudorf hat sich mit einem jungen, vermeintlich Arbeitslosen aus Litauen angefreundet. Über Monate gibt sie ihm Warmes zu essen und hier und da auch etwas Geld. Doch an diesem Abend ertappt die 79-jährige Rentnerin den Mann, wie er sich ungefragt Bares in ihrer Wohnung nimmt. Da greift er zum Gürtel ihres Morgenrocks, erwürgt sie damit und verschwindet.
Duisburgs Kripo nutzt jetzt den Festnetz-Anschluss der Toten. Die Telefongesellschaft liefert den Fahndern alle Verbindungsdaten der letzten Monate, die sie zu diesem Zeitpunkt noch gespeichert hatte. Tomasz L. fällt dabei wegen der häufigen Anrufe von seinem Handy auf. Als die Beamten die Wohnung des Litauers durchsuchen, finden sie das Diebesgut und als endgültigen Beweis DNA der Ermordeten unter seinen Fingernägeln. Er gesteht. Er büßt den Mord mit lebenslanger Haft.
Der Fall Mirco
Er ist der wohl der spektakulärste Kriminalfall im Westen Deutschlands seit Jahren. Grefrath, Herbst 2010. Am 3. September verschwindet der zehnjährige Mirco auf dem Weg vom Spielplatz nach Hause. Die Polizei setzt bis zu 1000 Beamte bei der Suche ein, hat zunächst aber keine heiße Spur, obwohl das Fahrrad des Jungen gefunden wird. Sie stellt auf dem Rad einige fremde DNA-Spuren sicher, kann sie aber nicht einer Person zuordnen. Mircos verzweifelte Eltern wenden sich am Ende ans ZDF und „XY ungelöst“: „Gebt uns unser Kind zurück“.
Auch interessant
Nach der TV-Ausstrahlung gehen Hinweise noch und noch ein – unter anderem einer auf einen dunklen VW Passat, der einem Zeugen in der Nähe des Entführungsortes aufgefallen war. Der Chef der Mordkommission, Ingo Thiel, lässt die etwa 1000 dunklen Passats der Gegend ermitteln - und fragt gleichzeitig bei der Telekom 240.000 Handydaten der Funkmasten in der Nähe der letzten Route des Jungen ab. Thiel hat Glück: Trotz des zu diesem Zeitpunkt schon gefallenen Verfassungsgerichts-Verbots der Vorratsdatenspeicherung hat die Telekom die Daten noch für die letzten 30 Tage auf Lager.
Nach 133 Tagen kann die Mordkommission die eingeloggten Handy-Nummern mit dem Handy eines der Fahrer eines dunklen Passat in Übereinstimmung bringen. Bei ihm im Auto finden sich DNA-Spuren des Kindes. Der Mann räumt Missbrauch und Mord ein und führt die Kripo zur Leiche von Mirco. Das Landgericht Krefeld verurteilt ihn am 29. September zu lebenslanger Haft.
Der Fall des Autohändlers
Hünxe, Sommer 2008. In einem Wald in der Nähe des niederrheinischen Ortes finden Passanten eine halb verweste Leiche in einem Plastiksack. Er wird als Autohändler identifiziert, der aus der Ukraine stammt. Die Polizei ruft beim Telefonanbieter des Toten die letzten Verbindungsdaten ab, die sie nach Krefeld und in die dortige Drogenszene führen. Nach weiteren Ermittlungen wird ein 27-jähriger als der Mörder identifiziert. Er gesteht die Tat und nennt als Motiv Habgier.
Der Bonner Doppelmord
Anfang 2011 erregt ein Doppelmord die Bundesstadt Bonn. Erst wird ein 42-jähriger in einem Matratzengeschäft erschossen. Drei Wochen später fallen in einem Waldstück Schüsse und töten einen 49-jährigen Geschäftsmann aus Rheinland-Pfalz. Der Täter legt dessen Leiche an einer Talsperre im nahen Belgien ab – und tappt damit in die Falle. Denn in Belgien gilt zu diesem Zeitpunkt, anders als in Deutschland, dass die Polizei eingeloggte Handy-Daten aus der Nähe des Ortes des Leichenfundes von den Telefonanbietern erhalten kann. Die Bonner Kripo besorgt sie sich und kann einen 57-jährigen der Morde überführen. Das Motiv: Habgier.
Die Enkeltrick-Fahndungen
Der frühere Kölner Oberstaatsanwalt Egbert Bülles nennt das Handy die „Tatwaffe Nummer 1“. Dies gelte nicht nur für die Enkeltricks, mit denen junge Bandenmitglieder alte Leute am Telefon hereinlegten und abkassierten. „Absprachen, Treffpunkte, Logistik, Kommandos – vieles läuft übers Mobiltelefon“, schreibt er in seinem Buch „Deutschland –Verbrecherland?“ Bülles: „Wir haben oft hierdurch überregional agierende Einbrecher- und Betrügerbanden per Bewegungsbild überführen können. Komplicen, die im Hintergrund die Fäden zogen, gingen uns erst durch Telefonverbindungsdaten ins Netz. Seit dem gesetzlichen Vakuum in Sachen Vorratsdatenspeicherung liegt diese Ermittlungsmethode flach.“
Die Kinderpornografie
Kaum anders urteilte Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD), der alleine für das Jahr 2010 172 Fälle von Kinderpornografie aus NRW aufzählt, die wegen fehlender Verbindungsdaten nicht geklärt werden konnten.
Auch interessant
„Ohne diese Daten kann nicht nur die Verbreitung dieser schrecklichen Bilder und Videos nicht unterbunden werden. Vielmehr können der dahinter stehende schwere sexuelle Missbrauch nicht ermittelt und die Leiden der Opfer nicht gestoppt werden“. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist in der Zeit, in der Verbindungsdaten in Deutschland genutzt werden konnten, also zwischen 2007 und 2010, der größte Teil dieser Daten für die Klärung von Fällen von Kinderpornografie eingesetzt worden.
Heute gilt für den Innenminister weiterhin, dass neben dem Datenschutz auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit gelten muss. Sie sei „kein Allheilmittel“ der polizeilichen Arbeit, aber eine angemessene Vorratsdatenspeicherung müsse möglich sein. So sagte es Jäger erst vor wenigen Tagen in Dortmund. Die Zahl der Kinderporno-Delikte hat wieder um 15 Prozent binnen Jahresfrist zugenommen.