Berlin. . Erst Neoliberalismus, dann Olympia, jetzt Zuwanderung: Mit seinen Reden zu brisanten Themen ruft Bundespräsident Joachim Gauck die Politik zur Ordnung und eckt damit nicht selten an. Es scheint, als hätte Gauck seine Rolle als unbequemer Mahner gefunden.
Der Bundespräsident feierte am Freitag seinen 74. Geburtstag, doch von Altersmilde war bei Joachim Gauck nicht viel zu spüren. Nach der Debatte um Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien rief er die Politik ungewöhnlich klar zur Ordnung: Es dürften in Deutschland keine Ängste vor Ausländern geschürt werden, warnte der Präsident in der FAZ. Es gefährde den inneren Frieden, wer suggeriere, Zuwanderung schade dem Land oder gefährde das Sozialsystem.
Gauck nannte die CSU nicht beim Namen, aber es war auch so klar, dass er vor allem die Christsozialen im Sinn hatte mit ihrer „Wer betrügt, der fliegt“-Kampagne. „Einwanderung tut diesem Land sehr gut“, mahnte Gauck, Probleme mancher Kommunen etwa mit Roma-Familien allerdings müssten benannt werden.
Schelte für die CSU
Die CSU schwieg offiziell nach der Präsidenten-Schelte. In Berlin aber wurden seine Worte aufmerksam registriert, im Internet sorgten sie rasch für Diskussionen. So ist es jetzt häufiger. Anfangs wurde das Staatsoberhaupt als Freiheits-Prediger belächelt oder als allzu stromlinienförmig kritisiert. Doch inzwischen überrascht der Präsident immer öfter mit klaren Positionen – die absichtlich nicht nur auf Zustimmung stoßen.
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Neulich etwa bei einem wirtschaftspolitischen Grundsatzvortrag in Freiburg verteidigte Gauck den klassischen Neoliberalismus, auf dessen Fundament in Deutschland die soziale Marktwirtschaft entstand. Gauck wusste, dass Neoliberalismus später in den USA zur Lehre eines zügellosen Kapitalismus umgedeutet wurde und deshalb heute ein Kampfbegriff ist. Aber unverdrossen plädierte er mit diesem Wort für eine freiheitliche Gesellschaft mit Markt und Wettbewerb.
Gespanntes Verhältnis zu Merkel
Die Grünen, die Gauck mit ins Amt verholfen hatten, gingen entsetzt auf Distanz, auch in der SPD wurde kritisch diskutiert. FDP-Chef Christian Lindner dagegen lobte das „Signal an das Kanzleramt.“ Debatten löst auch Gaucks Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Russland aus. Eine Reise nach Moskau ist geplant, doch mit der Besuchsabsage zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi hat er ein Signal gesetzt.
Der Schritt hat das Verhältnis zu Kanzlerin Angela Merkel nicht eben verbessert. Gut war der Draht zwischen den beiden nie, Merkel hat Gaucks Wahl zum Präsidenten einmal erfolgreich und einmal beinahe verhindert. Jetzt klagt das Kanzleramt, man sei vom Präsidenten nicht rechtzeitig von der Olympia-Absage informiert worden, andernfalls hätte man aus Sorge um das deutsch-russische Verhältnis abgeraten. Gauck freilich versichert, das Kanzleramt sei im Bilde gewesen.
Er hat seine Rolle gefunden
Der öffentliche Dissens ist ungewöhnlich, aber der Präsident ist mit sich im Reinen. Er hat seine Rolle gefunden. Er ist jetzt zunehmend das, was viele von ihm erhofften: ein unbequemer Präsident.
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Integration ist für ihn ein zentrales Thema. Diese Woche besichtigte Gauck in Mannheim eine Schule, die von vielen Kindern aus Roma-Familien besucht wird. Kürzlich sprach er mit syrischen Flüchtlingen, forderte danach von Deutschland eine größere Aufnahmebereitschaft. Ende Februar wird sich sogar das Bundesverfassungsgericht mit seinen Worten befassen müssen – weil er NPD-Demonstranten als „Spinner“ bezeichnete, haben die Rechten wegen angeblicher Verletzung des Neutralitätsgebots ein Organstreitverfahren angestrengt.
Kritik an den Späaktionen der NSA
Die Spähaktionen des US-Geheimdienstes NSA hat Gauck als unverhältnismäßig kritisiert: „Auch wenn man den Geheimdienst eines demokratischen Staates nicht mit der Stasi gleichsetzen kann, so ist es doch inakzeptabel, dass Millionen von Bürgern – darunter auch Familienmitglieder und Freunde – anfangen, sich am Telefon ähnlich zu verhalten, wie wir das früher in der DDR getan haben. Wenn es soweit gekommen ist, (...) ist die Verhältnismäßigkeit zwischen den erwünschten Abwehrmaßnahmen gegen terroristische Bedrohung und der Freiheit offensichtlich aus dem Blick geraten.“
Doch die eigentliche Herausforderung steht noch bevor: Das große Erinnerungsjahr 2014 fordert Gauck bei heiklen wie pompösen Terminen – und dürfte das Bild der Deutschen von ihrem Präsidenten nachhaltig prägen. Gedenkveranstaltungen im Herbst zur friedlichen Revolution in der DDR vor 25 Jahren sind zwar Steilvorlagen für Gauck, der dann sein Bekenntnis zur Freiheit und zum aufgeklärten Patriotismus unterfüttern kann.
Gauck muss sich an Weizsäcker messen lassen
Doch zuvor wird er sechs Staatsoberhäupter bei Veranstaltungen zum Beginn des Ersten Weltkrieges treffen, am 3. August besucht er mit Frankreichs Präsident Francois Hollande ein ehemaliges Schlachtfeld im Elsass. Eine Versöhnungsgeste ist geplant. Für Ende Juni ist eine große Grundsatzrede angekündigt, in der Joachim Gauck den Bogen spannen will vom Ersten Weltkrieg bis zur europäischen Einigung. Die Vorarbeiten laufen. Die Latte liegt hoch: Gauck muss sich messen lassen an der historischen Rede, die Vorgänger Richard von Weizsäcker 1985 zum Ende des Zweiten Weltkriegs hielt.