Kiew. . Mit den ersten tödlichen Schüssen auf Demonstranten in Kiew eskaliert die Gewalt in der ukrainischen Hauptstadt. Radikale Gegner des prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch liefern sich blutige Straßenschlachten mit Sicherheitskräften. Stapelweise brennen Reifen, giftiger schwarzer Qualm liegt über dem Zentrum, Scharfschützen nehmen von Dächern aus Demonstranten ins Visier.

Rauchsäulen steigen über dem Kiewer Majdan auf. Ein oppositionelles Internetfernsehen zeigt Scharfschützen auf den Dächern hoch über dem zentralen Unabhängigkeitsplatz. Unweit davon sollen erste Schützenpanzer aufgefahren sein. Um 16 Uhr Lokalzeit schlossen alle Geschäfte auf der nahen Einkaufsmeile Chreschtschatik. Auf dem Majdan erwarteten Tausende hinter Barrikaden gebannt den letzten Sturm der Sicherheitskräfte.

Diese hatten in den frühen Morgenstunden erstmals die Barrikade aus ausgebrannten Polizeibussen wenige Hundert Meter entfernt an der Gruschowski-Straße direkt angegriffen. Sie warteten damit bis zum Inkrafttreten der neuen Knebel-Gesetze nach Mitternacht.

Mehrere Tote, hunderte Verletzte

Bei den Kämpfen zwischen radikalen Protestierenden und der gefürchteten Sondereinheit „Berkut“ (Steinadler) kamen nach Angaben von ukrainischen Ärzten mindestens sieben Demonstranten ums Leben. Wie der Koordinator der Rettungskräfte der Opposition, Oleg Musij, dem Oppositionssender Hromadske sagte, wurden die fünf Demonstranten seit Mitternacht getötet. Laut der Nachrichtenseite "Ukrainska Pravda" hatten vier der fünf Tote Schussverletzungen.

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Unter dem Eindruck der dramatischen Zuspitzung der Lage nahm der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch von seiner Weigerung direkter Verhandlungen mit der Opposition Anstand und traf mehrere Oppositionsführer, darunter Witali Klitschko, am Nachmittag. Zuvor forderte er Sicherheitskräfte und Demonstranten zum Gewaltverzicht auf. Noch am Mittwochmorgen hatte Premierminister Mykola Asarow der Opposition die Schuld für die ersten Todesopfer in die Schule geschoben. „Die Verantwortung für die Opfer, die es leider gibt, liegt bei den Organisatoren und Teilnehmern der Massenunruhen“, sagte Asarow. Gleichzeitig bezeichnete er alle Demonstranten als „Terroristen“.

Klitschko ist wütend

Die Opposition sprach von gezielten Erschießungen, die nichts mit Notwehr zu tun hätten. Am Montag hatte das Innenministerium den Sicherheitskräften den Gebrauch von Schusswaffen in Notfällen gestattet. „Heute schießt die Regierung als Antwort auf die Forderungen der Bürger auf das eigene Volk“, sagte Klitschko, „dafür gibt es keine Entschuldigung“.

Bis zum Mittwochabend wurden erneut mindestens 300 Demonstranten teils schwer verletzt. Notärzte operierten Kugeln aus manchen Körpern. Laut dem Internetfernsehen espreso.tv wurden vor dem Parlament 20 mit dem Rotkreuzzeichen markierte Notärzte von den Sicherheitskräften verprügelt. Laut „Reporter ohne Grenzen“ sind seit Sonntag 37 Journalisten verletzt worden. Viele von ihnen seien gezielt von den Sicherheitskräften angegriffen worden. Fernsehbilder auf espreso.tv zeigten am Nachmittag mehrere Brandherde auf dem Europa-Platz unweit des Regierungsviertels.

Moskauer Interessen

Beobachter in Kiew wiesen darauf hin, dass eine Gewaltlösung in der Ukraine am ehesten Moskau zupass kommt. Noch vor wenigen Tagen hatte Asarow betont, die Ukraine habe sich noch nicht definitiv zwischen einer EU-Assoziation oder dem Beitritt zur von Moskau dominierten Zollunion zwischen Russland, Weißrussland und Kasachstan entschieden. Janukowitsch hatte sich am 17. Dezember zwar mit Putin auf eine engere Zusammenarbeit mit Moskau verständigt und dafür unter anderem einen 15 Milliarden-Dollarkredit erhalten. Doch schien es bisher, Kiew unternehme alles, um zur alten Schaukelpolitik zwischen West und Ost zurückzukehren.

Mit Moskauer Rückendeckung erlaubte sich Janukowitsch eine gegen die europäischen Werte gerichtete massive Einschränkung der Bürgerrechte, die er Mitte Januar ohne Diskussion durch das Parlament peitschen und von seiner Mehrheit gutheißen ließ. Damit ist auch die friedliche Zeltstadt auf dem Majdan seit Mittwoch delegalisiert und kann mit Haftstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden.

Provokateure aus Russland?

Außer Kontrolle geraten war der seit zwei Monaten friedliche Protest für die Unterzeichnung des von Janukowitsch sistierten EU-Assoziationsabkommen indes bereits am Sonntagabend, als eine Gruppe radikaler Protestierender zu Sturm auf das Parlament aufrief. Laut dem Kiewer Soziologen Juri Baumann handelt es sich bei der inzwischen als „Rechter Sektor“ bekannten Gruppe um von der Regierung oder gar Russland eingeschleuste Provokateure.

Inzwischen hätten deren Aktionen jedoch die Masse der Unzufriedenen angezogen, meinte Baumann in einem Gespräch mit der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Nach dem massiven Angriff der Polizei auf die Barrikaden beim Europa-Platz vermischten sich bisher friedliche und gewaltbereite Demonstrantengruppen immer mehr. (mit dpa)