Berlin. Mehr als 100 000 Asylbewerber - so viele Schutzsuchende wie 2013 gab es zuletzt in den 90ern. Viele Flüchtlingsheime sind übervoll, Behörden kämpfen mit Aktenbergen. Deutschland hätte sich besser auf die Entwicklung vorbereiten können und müssen, meinen Experten.

20 Quadratmeter für vier Menschen - viel Platz hat die Familie aus Bosnien nicht. Seit drei Monaten leben die Eltern mit ihren beiden Töchtern in einem Zimmer in einem Asylbewerberheim in Berlin-Lichtenberg. In dem Raum steht nur das Nötigste: drei Betten, vier Stühle, ein Schrank, zwei Tische, Fernseher, Kühlschrank.

Das vorübergehende Zuhause der Familie ist ein zehngeschossiger Plattenbau. Früher war es ein Wohnhaus. Auf der Suche nach Platz für die steigende Zahl an Asylbewerbern sind die Berliner Behörden erfinderisch. Auf den zehn Stockwerken leben rund 360 Menschen aus 18 Ländern. Manche sind seit mehr als einem Jahr hier.

Viele Asylbewerber sind traumatisiert

Für 350 Menschen ist die Unterkunft eigentlich ausgelegt. Doch der Andrang an Schutzsuchenden ist übergroß. Deshalb rücken alle etwas zusammen. "Die Lage ist extrem im Moment", sagt die Leiterin Birgit Bauer. "Wir sind sehr beengt." Die Menschen hier haben alle Strapazen hinter sich - Flucht vor Not, Gewalt oder Verfolgung in ihrer Heimat. Viele sind traumatisiert und leben nun auf engstem Raum zusammen. Ein Pulverfass sei das, sagt Bauer, "eine unschöne Situation für uns alle". Die Mitarbeiter versuchen, das Beste daraus zu machen.

Mehr als 30 Asylbewerberheime gibt es in Berlin. "Alle sind bis fast auf den letzten Platz belegt", sagt Silvia Kostner vom Landesamt für Gesundheit und Soziales. "Wir haben keinen Puffer mehr." Einige Heime sind überstrapaziert, wie das in Lichtenberg. In einem anderen leben rund 550 Menschen, wo nur 400 sein sollten. In den vergangenen Monaten mussten die Behörden auch schon mal leerstehende Schulen oder Verwaltungsgebäude über Nacht zu Notunterkünften umfunktionieren: mit Feldbetten und mobilen Duschen für die ersten Tage.

2014 deutlich mehr als 100.000 Anträge erwartet

2014 sollen mehrere neue Unterkünfte mit Hunderten Plätzen in Berlin eröffnen. Der Bedarf ist groß - auch in vielen anderen Städten und Gemeinden, die über die zunehmende Belastung stöhnen. Die Zahl der Asylbewerber in Deutschland nimmt seit einigen Jahren zu. Rekorde wie in den 90er Jahren sind zwar noch weit weg: 1992 stellten mehr als 400 000 Menschen einen Asylantrag. Danach gingen die Zahlen zurück; viele Unterkünfte für Asylsuchende wurden geschlossen. Der Andrang nimmt aber wieder deutlich zu.

2007 zählten die Behörden noch rund 19 000 Asylanträge, 2012 waren es bereits fast 65 000. Das ist für 2013 längst übertroffen: Ende November waren schon fast 100 000 erreicht. Viele Tschetschenen sind darunter, Syrer, Afghanen, aber auch Menschen vom Balkan. Die Zahlen für das Gesamtjahr kommen erst Mitte Januar. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das die Asylverfahren bearbeitet, rechnet mit bis zu 110 000 Anträgen insgesamt - und auch für 2014 mit "deutlich mehr als 100 000". So viele Menschen kamen zuletzt 1997.

Das Bundesamt ächzt unter den Aktenbergen. In den 90ern hatte die Behörde rund 4000 Mitarbeiter, heute sind es etwa halb so viele. Rund 300 davon sind "Entscheider", also Mitarbeiter, die das letzte Wort haben, ob jemand Asyl bekommt. Die Verfahren ziehen sich lange hin, inzwischen im Schnitt acht Monate, manchmal auch mehr als ein Jahr.

"Man hat nicht richtig reagiert"

Der Personalmangel beim Bundesamt ist so groß, dass dort mittlerweile 130 Bundespolizisten aushelfen. Bald sollen wohl auch Bundeswehrleute mit anpacken, um Akten anzulegen und andere Aufgaben zu übernehmen. "Entscheider" sind sie aber nicht.

Überraschend kommt die Entwicklung nach Einschätzung von Fachleuten nicht. "Die Asylbewerberzahlen gehen seit Jahren nach oben", sagt Franziska Vilmar, Asylexpertin der deutschen Sektion von Amnesty International. "Man hat nicht richtig reagiert." Der Geschäftsführer der Organisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, klagt: "Die deutsche Bürokratie mahlt langsam." Die Behörden hätten die Kapazitäten über Jahre nur abgebaut, anstatt sich auf die neue Entwicklung einzustellen. "Es wurde falsch organisiert."

Personal beim Bundesamt werde aufgestockt

Union und SPD haben nun vereinbart, das Personal beim Bundesamt aufzustocken, um die Asylverfahren auf drei Monate zu verkürzen. Andere Pläne: Asylbewerber sollen früher als bisher arbeiten dürfen und sich etwas freier bewegen in Deutschland. Langjährig Geduldete, die sich gut integriert haben, sollen die Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht bekommen. Zugleich sollen aber auch Menschen aus Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien schneller abgewiesen werden.

Flüchtlingsorganisationen sind damit alles andere als zufrieden. Burkhardt fordert ein Umdenken. Bislang würden Flüchtlinge als Last angesehen. Das müsse sich ändern. Er verlangt, Asylbewerber in Wohnungen statt Massenunterkünften einzuquartieren, sie nicht vom Rest der Bevölkerung zu isolieren, ihnen Zugang zu Integrationskursen und zur Job-Qualifizierung zu geben. Etwa die Hälfte von ihnen bleibe in Deutschland, und in einer älter werdenden und schrumpfenden Gesellschaft sei das eine Chance, sagt Burkhardt. "Wir müssen sie nur von Anfang an integrieren." (dpa)