Berlin. 83 Tage nach der Bundestagswahl herrscht endlich Klarheit: Deutschland wird ab nächste Woche von einer Großen Koalition regiert - beim SPD-Mitgliederentscheid hat die Basis mit einer großen Mehrheit von 75,96 Prozent der abgegebenen Stimmen den Weg frei gemacht für das Regierungsbündnis mit der Union.
Es ist der große Triumph von SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Dieser Tag wird in die Geschichte der Demokratie in Deutschland eingehen“, ruft Gabriel bei der Bekanntgabe des Ergebnisses unter dem Jubel von hunderten Genossen. Die SPD sei mit dieser Form der Mitgliederbeteiligung die modernste Partei, sie habe Standards gesetzt. „Ich bin lange nicht so stolz gewesen, Sozialdemokrat zu sein, wie in diesen Wochen.“
Der 54-Jährige steht in der Halle des ehemaligen Postbahnhofs in Berlin-Kreuzberg, wo seit dem Morgen die Stimmen ausgezählt wurden. Um ihn herum haben sich fröhlich die Mitglieder der engeren Parteiführung versammelt, sie kennen das Ergebnis, das Schatzmeisterin Barbara Hendricks nun vorträgt: Insgesamt votierten 256 643 Genossen mit Ja, 80 921 mit Nein. 76 zu 24 Prozent der gültigen Stimmen - es ist nicht nur ein „Fest der innerparteilichen Demokratie“, wie Gabriel sagt, dieses Votum ist auch ein Fest für ihn selbst.
Auf Augenhöhe mit der Kanzlerin
Gabriel wird jetzt der mächtigste Mann der Bundesregierung, Vizekanzler mit einem Superministerium für Wirtschaft und Energie, auf Augenhöhe mit der Kanzlerin - und mit der Option, 2017 selbst nach dem Kanzleramt zu greifen. Für diesen Weg nach oben hat er offiziell breiten Rückhalt: Die Drei-Viertel-Mehrheit ist, an der Stimmungslage kurz nach der Bundestagswahl gemessen, ein sehr gutes Ergebnis. Die Beteiligung von 77,8 Prozent der 474.820 Mitglieder ist sehr ordentlich - das Quorum hatte bei 20 Prozent gelegen. Zwar war fast jede zehnte Stimme wegen Formfehlern ungültig, etwa weil die eidesstattliche Erklärung nicht korrekt war. Trotzdem ergibt sich, auf die gesamte Mitgliedschaft berechnet, noch eine absolute Mehrheit von rund 54 Prozent für die Koalition.
Viele Mitglieder hatten schließlich also doch das Gefühl, die SPD habe in den Koalitionsverhandlungen genug erreicht - ein Teil der Genossen fürchtete aber wohl einfach auch, mit einem Nein die gesamte Parteispitze zu beschädigen. Gabriel dankt indes auch den Mitgliedern, die dennoch mit Nein gestimmt haben; sie seien ebenso engagierte Sozialdemokraten, sollten aber in den nächsten Jahren davon überzeugt werden, dass die Mehrheit recht gehabt habe.
Ein Votum, das aus der Not geboren wurde
Die Briefe mit den Abstimmungsunterlagen von Genossen waren kurz nach Mitternacht von der Deutschen Post per Lkw in dem ehemaligen Postbahnhof angeliefert worden. Erst frästen zwei Hochleistungsschlitzmaschinen die Briefe auf, am Morgen begannen 400 freiwillige Helfer mit dem Auszählen der Stimmen, überwacht von Prüfern aus allen SPD-Bezirken und unter Aufsicht eines Notars. Handys mussten die Helfer abgeben, damit nicht Zwischenstände nach außen dringen konnten. Nichts sollte auf den letzten Meter das Verfahren noch stören, das Gabriel nun stolz und selbstbewusst als „Vorbild für andere Parteien“ preist.
Furcht vor langen Messern
Bundestagswahl 2013Dabei war diese beispiellose Befragung aus der Not geboren. In den Tagen nach der Bundestagswahl hatte es massiven Widerstand der SPD-Basis gegen eine Große Koalition gegeben, Parteichef Gabriel aber hielt die Regierungsbeteiligung für alternativlos - Opposition gegen eine schwarz-grüne Koalition oder Neuwahlen hätten die SPD aus seiner Sicht weiter in die Krise getrieben. Gabriel wusste zudem: Ohne Aussicht auf Regierungsbeteiligung wären in der SPD nach der bitteren Wahlniederlage (mit 25,7 Prozent der Stimmen war es das zweitschlechteste SPD-Ergebnis seit 1949) die Messer gewetzt worden, Gabriels Amt wäre in Gefahr gewesen. Um die Widerstände gegen die Koalition zu überwinden, versprachen er und die engere Parteiführung der Basis größtmögliche Beteiligung auf dem Weg in die Koalition - nicht nur für zwei kleine Parteitage vor und nach den Sondierungsgesprächen, sondern eben auch der aufwändige Mitgliederentscheid.
Wie sich der Parteichef den Respekt de Genossen verdiente
Die Art und Weise, wie Gabriel souverän und unaufgeregt die Partei in die Koalition steuerte, hat ihm viel Respekt in der SPD eingebracht. Bei einem Nein der Basis hätte der Vorsitzende jetzt wohl zurücktreten müssen. Absturz oder mächtigster Mann der Regierung - obwohl für ihn viel auf dem Spiel stand, habe er habe alles richtig gemacht, heißt es übereinstimmend von vielen Funktionären. Der Vorsitzende habe strategisch klug und besonnen gehandelt und vor allem die Partei zusammengehalten, bescheinigen ihm anerkennend und auch ein bisschen verwundert auch Spitzenleute wie Frank-Walter Steinmeier oder Peer Steinbrück, die Gabriels Handeln im Wahlkampf noch sehr kritisch beäugt hatten. Ein enger Vertrauter Gabriels sagt: „Er wusste genau, was er wollte. Und er hat keine Angst gehabt. Das war die Basis des Erfolgs.“
Personalfragen sollten keine Unruhe schüren
Gedanklich hatte sich der Vorsitzende auf diese Herausforderung schon vor der Bundestagswahl vorbereitet, als das offizielle Ziel noch Rot-Grün hieß. Auch kleine Tricks gehörten bei ihm dazu: Einen kleinen Parteitag ließ er Anfang Oktober nur solche Kernforderungen für den Koalitionsvertrag beschließen, für die er von den Chefs von CDU und CSU bereits zustimmende Signale erhalten hatte. Seine vertraulichen Absprachen mit Angela Merkel und Horst Seehofer, wie die Posten im Kabinett verteilt werden, hielt Gabriel bis zum Ende des Abstimmungsprozesses geheim - mit der offiziellen Begründung, die Basis wolle das so. Dabei räumen führende SPD-Politiker inzwischen ein, die Geheimhaltung habe verhindern sollen, dass die Postenverteilung für Unruhe bei den Genossen auslöst. Gabriels Rechnung ist aufgegangen. „Das Beispiel des Mitgliederentscheids wird Schule machen, die SPD hat Standards für andere Parteien gesetzt“, sagt der Parteichef.
Abstimmung kostete die Partei 1,6 Millionen Euro
Aber so schnell wird selbst die SPD dieses Experiment nicht wiederholen. Die Abstimmung in der verzweifelten Lage der SPD nach der Wahl gilt zwar weithin als geniale Idee. Generalsekretärin Andrea Nahles sagt dennoch: Es werde zwar weitere Mitgliedervoten geben, aber sicher „nicht so bald“. Es habe sich herausgestellt, dass die Befragungen organisatorisch aufwendig und sehr teuer seien. Vom Risiko des Scheiterns ganz abgesehen. Mit 1,6 Millionen Euro sei die Abstimmung „schweineteuer“ gewesen, sagt der SPD-Politiker Johannes Kahrs. Das ist jetzt der bezifferbare Preis, den die SPD für die Koalition bezahlt. Der politische Preis ist noch nicht absehbar.