Essen. . Der SPD-Parteivorsitzende postet auf seiner Facebook-Seite ein Lob für den Schriftsteller-Aufruf gegen die Überwachung durch die Geheimdienste – und erntet Hohn, Spott und Wut, weil sich die SPD mit der Union auf eine Reaktivierung der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung verständigt hat.
Sigmar Gabriel hat eigentlich einen guten Lauf. Dort, wo er auf seiner Werbetour für den Koalitionsvertrag mit der Union auftritt, erntet er meistens wenn auch widerwillige Zustimmung, die Basis scheint langsam auf Kurs zu kommen; abgesehen von den schon immer renitenten Jungsozialisten, bei denen er auf Granit biss. In der virtuellen Welt jedoch hat es der SPD-Parteichef gerade richtig schwer. Dort wird er gerade mit etwas konfrontiert, was gemeinhin „Shitstorm“ genannt wird und am familientauglichsten mit einer Welle des Spotts, der Häme und der Wut übersetzt werden kann.
Grund: Sigmar Gabriel hat auf seiner Facebook-Seite den weltweiten Protest von Hunderten Schriftstellern gegen die systematische Überwachung im Internet durch die Geheimdienste gelobt – angesichts der Haltung der SPD in Sachen Vorratsdatenspeicherung eine Farce, befinden zahlreiche Kritiker.
„Wunderbare Aktion“
Der Aufruf der Schriftsteller sei eine „wunderbare und beeindruckende Aktion“, schreibt Gabriel auf seiner Facebook-Seite, und „der Kampf um bürgerliche Freiheiten hat einst national begonnen, jetzt findet er erstmals international gemeinsam statt“. Ein solcher Aufruf dürfe in der Politik nicht ungehört bleiben, so Gabriel weiter, weswegen er die deutschen Unterzeichner Anfang des Jahres zu einem Gespräch einladen wolle.
Dass er mit diesem Einwurf auf Widerstand treffen würde, hätte ihm klar sein können: Die SPD will schließlich gemeinsam mit der Union die heftig umstrittene und von Netzaktivisten rundum abgelehnte Vorratsdatenspeicherung reaktivieren, so steht es im Koalitionsvertrag. Vorratsdatenspeicherung meint die anlasslose Massenspeicherung von Telekommunikationsdaten, vor allem den Verbindungsdaten von Internetnutzern. Auf die gespeicherten Daten sollen die Strafverfolgungsbehörden bei „schweren Straftaten“ zugreifen können. Ein entsprechendes deutsches Gesetz fordert die EU bereits seit 2006, das Bundesverfassungsgericht kippte allerdings 2010 eine entsprechende Regelung.
Bürger unter Generalverdacht
Kritiker sagen, dass die Vorratsdatenspeicherung alle Bürger unter einen Generalverdacht stelle. Auch in der SPD haben viele Bauchschmerzen – Ende 2012 stimmt nur eine knappe Mehrheit beim Parteitag in Berlin für das Vorhaben. Die Große Koalition in spe will sich zwar dafür einsetzen, dass die Daten nicht wie von der EU gewünscht sechs Monate gespeichert werden, sondern nur drei – der Wutwelle im Netz gegen Gabriel tut das aber keinen Abbruch.
Hunderte Kommentatoren attackierten am Dienstag Gabriel nach seinem Facebook-Eintrag. „Vor dem Hintergrund der Vorratsdatenspeicherung ist der Beitrag ja wohl blanker Hohn“, hieß es, oder: „Wir wollen nicht permanent überwacht werden, weder durch die NSA noch durch unverhältnismäßige Werkzeuge wie die Vorratsdatenspeicherung.“
Bereits Ende November hatte sich der SPD-Parteichef die Wut der Netzgemeinde zugezogen, als er in einem ARD-Brennpunkt für die Vorratsdatenspeicherung warb. Durch diese habe man in Norwegen sehr schnell gewusst, „wer in Oslo der Mörder war“, sagte Gabriel in Anspielung auf das Massaker 2011, bei dem ein rechtsextremer Fanatiker insgesamt 77 Menschen in der norwegischen Hauptstadt und auf der Ferieninsel Utøya ermordete. Das Problem: Die Vorratsdatenspeicherung ist in Norwegen noch gar nicht scharf geschaltet, sondern soll erst 2015 starten.
„Mich verblüfft diese Argumentation“
SPD-Netzpolitiker empörten sich daraufhin in einem Blogeintrag heftig über ihren Parteivorsitzenden. Dieser habe „die Opfer von Utøya instrumentalisiert“ um die Kritik an der Vorratsdatenspeicherung zu diskreditieren. „Das ist unwürdig und falsch“, hieß es dem Blogeintrag. Andere Kommentatoren warfen Gabriel vor wahlweise „infam“ oder „perfide“ mit der Angst der Bürger vor Anschlägen zu spielen.
Nach dem „Shitstorm“ reagierte Gabriel schnell – und attackierte wiederum seine Kritiker. „Mich verblüfft diese Argumentation“, schrieb der SPD-Parteichef. Wer die Vorratsdatenspeicherung mit der flächendeckenden Erfassung und Speicherung von Kommunikationsdaten durch die NSA gleichsetze, verniedliche deren Vorgehen. Geholfen hat es nicht. Gleich darauf schwappte die nächste Wutwelle über ihn.