Washington. . Als der Präsident der Vereinigten Staaten bei einem Attentat getötet wurde, war er gerade mal 1000 Tage im Amt und 46 Jahre alt. Seitdem sind 40.000 Bücher über den smarten Mann geschrieben worden. Angesichts des 50. Jahrestages der Todesschüsse von Dallas beschäftigen sich weitere 100 Werke mit JFK.
Was am 22. November 1963 auf der Elm Street in Dallas, Texas, geschah, hat sich eingestanzt in das kollektive Gedächtnis Amerikas. Vergleichbar nur mit dem Bombenangriff der Japaner auf Pearl Harbor 1941. Oder den Terror-Anschlägen auf die Twin Tower von New York 2001. Viele Amerikaner, die vor 1960 geboren sind, können noch heute sehr präzise angeben, wo sie in dem Augenblick waren, als die Fernseh-Eminenz Walter Cronkite um Fassung ringend die Brille abnahm, zur Studiouhr aufsah und der Nation zur Mittagszeit den Tod des Präsidenten mitteilte. Seither gleicht John F. Kennedy, Mensch gewordener Erinnerungs- und Sehnsuchtsort für Generationen, einem Überirdischen.
Dass die Erinnerungsindustrie zum 50. Jahrestag Sonderschichten fährt, erzwingt die nie versiegende Nachfrage auf dem Markt der Mythen. Kennedy starb durch allenfalls halbherzig aufgeklärte Mörderhand nach knapp 1000 Tagen im Amt mit 46 Jahren. Die Bücher-Regale, die unter 40 000 Werken über das Wirken des 1917 geborenen Abkömmlings irisch-katholischer Einwanderer ächzen, müssen zum 50. an die 100 weitere bewältigen. Der Erkenntnisgewinn ist überschaubar.
Die amerikansche Version von Hofstaat und Pomp
Thurston Clarke, einer der Autoren, spricht von einem der „kompliziertesten, geheimnisvollsten Männer“, die jemals die Geschicke der Nation gelenkt haben. Kennedys langjähriger Redenschreiber und Berater Ted Sorensen konstatiert: „Viele Menschen haben Ausschnitte seines Lebens, seiner Arbeit und seiner Gedanken gesehen und gehört. Aber niemand hat alles gesehen.“ Der Langzeitwirkung tut das keinen Abbruch.
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Am Image des strahlenden Lebemannes, der nach der bleiernen Eisenhower-Zeit zu „neuen Grenzen“ aufbrach und das Land mitriss, richten sich noch heute viele auf. Kennedy verkörperte Tatkraft, Visionen und Vitalität. Unvergessen sein TV-Duell im Wahlkampf mit dem Architekten des Watergate-Skandals: Nixon bleich, Kennedy ganz Beau. Die aufwühlende Rhetorik von Idealismus und Opferbereitschaft („Frag nicht, was dein Land für dich tun kann...“), die Noblesse der Familiendynastie, das demokratische Weltverbesserungs-Gen, all das bediente das Bedürfnis des Volkes nach einer amerikanischen Version von Hofstaat und Pomp auf unnachahmliche Weise.
Der große Unvollendete
Im Ansehen der Amerikaner steht Kennedy ganz oben. Vor George Washington. Vor Lincoln. Vor Roosevelt. Republikaner wie Demokraten nehmen JFK für sich in Anspruch. Seine Art, andere zu inspirieren, hält die Was-wäre-wenn-gewesen-Fragen jung: vom Fortgang des Krieges in Vietnam. Bis hin zum Verhältnis zu Russland. Der von einem despotischen Vater in die Pflicht drangsalierte Weltkriegs-Veteran hätte eine bessere Welt hinterlassen. Der Glaube daran ist bis heute Goldstandard des politischen Marketings. Kennedy, der große Unvollendete – die Projektionsfläche für unerfüllte Träume schlechthin.
Kennedy war der erste Präsident, der via Fernsehen an Washingtons Machtclique vorbei direkt mit den Menschen sprach. Die emotionalen Bande, die so gewachsen sind, ließen die Ermordung für Millionen wie einen persönlichen Verlust erscheinen. Vier von fünf Amerikanern im Alter 60plus geben an, damals einen „engen Freund verloren“ zu haben. Und Freunden sieht man vieles nach.
Etwa die später vollständig bekannt gewordenen Gesundheitsprobleme, die JFK, in Wahrheit seit Jugendtagen ein körperliches Wrack, das ohne Pillen-Cocktails selten durch den Tag kam, hinter einer sorgsam behüteten Fassade verschleierte. Oder das sich auf geschätzte 2000 Affären summierende Schwerenötertum, hinter dem sich Bill Clintons Monica-Lewinsky-Oraltorium wie ein Einmal-Fehltritt ausnimmt. Nicht zu vergessen die politische Unentschlossenheit Kennedys, die den Gleich- und Freiheitsbestrebungen der schwarzen Bürgerrechtler um Martin Luther King anders als kolportiert lange Zeit im Weg stand.
Blendendes Aussehen, eine noch blendender aussehende Frau, niedliche Kinder: Der Publizist Robert L. Samuelson erklärt den Bann, in den Kennedy Amerika abseits der Seifenoper-tauglichen Rahmenbedingungen bis heute zieht, mit dem tief in der amerikanischen Volksseele wurzelnden Glauben an die eigene Großartigkeit. Kennedy stehe für eine Metapher, für ein magnetisches Versprechen, wonach alles möglich ist.
Verklärende Erinnerung
Alle Nachfolger wurden daran gemessen. Und scheiterten. Die verklärende Erinnerung an Kennedy beschränke Amerika, angemessene Antworten auf die Probleme von heute zu finden. Ein Sinneswandel werde sich erst durch altersbedingtes Vergessen ergeben. Drei Viertel aller Amerikaner von heute waren noch nicht geboren oder jünger als fünf Jahre, als Kennedy starb. „Für sie ist der Mord ein fernes Ereignis, mit dem sie nichts verbindet“, sagt Samuelson.
Für die Älteren bleibt es dabei: Das größte Mysterium ist nicht, wer (außer Lee Harvey Oswald) Kennedy getötet haben könnte und warum. Sondern wer John Fitzgerald Kennedy wirklich war.