Essen. . 17 SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Ruhrgebiet schicken einen Brandbrief nach Berlin. Sie fordern Hilfe für die verarmten Städte. Forscher sprechen in einer neuen Studie von der „Absteiger“-Region Ruhrgebiet. Und der CDU-Politiker Oliver Wittke sieht die Armuts-Zuwanderung als größtes Revier-Problem.

Die SPD-Bundestagsabgeord­neten aus dem Ruhrgebiet richten einen dramatischen Appell an ihren ­Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier: Der Unterhändler der SPD soll sich in den Koalitionsverhandlungen mit der Union für eine milliardenschwere ­Entlastung des Reviers einsetzen. Steinmeier soll die Hilfe sogar zur Bedingung machen für die Unterzeichnung eines Koalitionsvertrages. Denn die Region sei in größter Not.

In dem Brief heißt es, der Zwang zum Schuldenabbau „stranguliert“ die Städte. Von sozialer Gerechtigkeit sei das Ruhrgebiet weit entfernt. Steigende Sozialkosten und Armuts-Zuwanderung überforderten die Städte. „Um Zustimmung bei uns finden zu können, muss ein Koalitionsvertrag konkrete Programme und Maßnahmen enthalten, die den Städten im Ruhrgebiet spürbare Erleichterungen in ihrer oft schwierigen Situation verschaffen“, so der Gelsenkirchener Abgeordnete Joachim Poß.

Auch interessant

Die düstere Einschätzung der Lage wird durch eine aktuelle Studie des Schweizer Forschungsunternehmens Prognos bestätigt: In einer Rangliste, welche die Zukunftschancen der Regionen abbildet, liegt das Revier weit unten.

Arbeitslose, Hartz IV-Empfänger, verschuldete Städte

Im Fußball gehören Dortmund und Gelsenkirchen zu den Großen und Starken. Außerhalb des Platzes geht es ihnen vergleichsweise miserabel. Eine neue Studie des Prognos-Institutes sieht gar das ganze Revier als „Absteiger“ in der Rangliste der Regionen.

„Oberhausen, Gelsenkirchen, Herne, Recklinghausen, Bottrop – viele alte Kohlestädte gehören nur noch zum schwächsten Viertel der deutschen Landkreise, also zu den Regionen mit den größten Zukunftsrisiken“, heißt es. Dortmund schmiert ab auf Platz 323 unter 402 Städten und Kreisen. Nur vier Regionen haben seit 2004 mehr Plätze verloren als Dortmund.

Insgesamt, so die Autoren, fand der Aufschwung der vergangenen Jahre unter Ausschluss des nördlichen Ruhrgebiets satt. Viele Arbeitslose, viele Hartz IV-Empfänger, verschuldete Städte – schlimmer geht’s nimmer.

„Das schnürt uns die Luft ab“

In ihrer Tendenz dürfte diese Studie kaum überraschen. Seit Jahren wird das Ruhrgebiet von Fachleuten als „abgehängt“ beschrieben. Man könnte das Ergebnis als „normal“ abhaken, wenn nicht am Freitag 17 SPD-Bundestagsabgeordnete aus dem Revier einen Brandbrief an Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier geschickt hätten. Sie wollen, dass in den Koalitionsverhandlungen möglichst viel für die verarmten Städte an der Ruhr herausspringt. Denn auch sie sehen die Region tief in der Armutsfalle.

Der den Kommunen auferlegte Zwang zum Sparen gehe zum Beispiel zulasten der Jugendhilfe, der Sozial- und Familienpolitik und der Bildung. Das schnüre dem Revier die Luft ab. Die Genossen empfehlen ihren Unterhändlern, in den Koalitionsverhandlungen Druck auf die Union auszuüben und viel für das Revier herauszuholen.

Dies sind ihre Forderungen:

  • Ein Mindestlohn von 8,50 Euro, der „die Kaufkraft im Ruhrgebiet um mehrere Hundert Millionen Euro erhöhen würde“.
  • Die Schulsozialarbeit müsse weitergehen, ohne die Städte dadurch mehr zu belasten.
  • Der Bund soll die Städtebauförderung sicherstellen und darüber hinaus ein 3. Konjunkturprogramm auflegen, das dem Straßenbau und dem Nahverkehr zugute kommt.
  • Die Zuwanderung von Armutsflüchtlingen „überfordert unsere Städte und die Bürger“, so die Abgeordneten.
  • Mehr Förderung von Langzeitarbeitslosen steht auf der Liste. („In manchen Städten sind 80 Prozent der Arbeitslosen Langzeitarbeitslose“).
  • Schließlich wird Berlin aufgefordert, sich deutlich stärker an den Sozialkosten, insbesondere an der Eingliederungshilfe für Behinderte zu beteiligen.

Was das alles kosten würde, kann die SPD nicht genau beziffern. Joachim Poß aus Gelsenkirchen spricht von einem „größeren Milliardenbetrag“. Michael Groß (Kreis Recklinghausen) bleibt bei der Frage, wo das Geld herkommen soll, unverbindlich. „Wenn die Union Steuererhöhungen ablehnt, müssen wir Geld aus vorhandenen Mitteln in die Hand nehmen.“

Armuts-Migration, ausgerechnet in die ärmsten Städte

Der Sprecher der CDU-Bundestagsabgeordneten aus dem Revier, Oliver Wittke, bezeichnet die Zuwanderung aus Südosteuropa als spezielles Ruhrgebiets-Problem. „Diese Zuwanderer gehen nicht in die reichen Städte oder aufs Land, sondern dorthin, wo die Mieten niedrig sind: nach Duisburg, Essen und Dortmund.“ Der Bund müsse als Verursacher dieser Zuwanderung den Städten helfen.

Geld für Straßenbau und Nahverkehr müsse künftig vor allem dorthin fließen, wo dadurch der größte Nutzen entstehe, also ins Ruhrgebiet. Der Mindestlohn, so Wittke, sei hingegen kein reines Revier-Thema.