Luxemburg/Berlin. Europa ist nach der Tragödie von Lampedusa uneins über die gemeinsame Asylpolitik. Widerstand gegen einen Umbau kommt vor allem aus Deutschland. Linkspartei-Chef Riexinger wirft Bundesinnenminister Friedrich Hetze gegen Einwanderer vor. Derweil wurde EU-Kommissionspräsident Barroso auf Lampedusa mit Buh-Rufen empfangen.
Die EU greift Italien nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa mit 30 Millionen Euro unter die Arme. Das gab EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso am Mittwoch bei einem Besuch auf der Mittelmeerinsel bekannt. Barroso und die Vertreter der italienischen Regierung wurden bei ihrer Ankunft von aufgebrachten Anwohnern mit Buh-Rufen empfangen. Italiens Ministerpräsident Enrico Letta kündigte ein Staatsbegräbnis für die Opfer des Unglücks an.
Die Demonstranten riefen "Schande!" und "Mörder!" und schwenkten Fotos von Flüchtlingen, als die Politiker am Flughafen eintrafen. Begleitet wurden Letta und Barroso von Italiens Innenminister Angelino Alfano und EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström.
Barroso kündigte an, die EU werde Italien zusätzliche Mittel in Höhe von 30 Millionen Euro zur Verfügung stellen, um den Andrang von Flüchtlingen zu bewältigen. "Wir wissen aber, dass noch viel mehr getan werden muss", fügte Barroso hinzu. Die EU dürfe vor solchen Flüchtlingsdramen nicht die Augen verschließen und zulassen, dass tausende Menschen an ihren Grenzen ums Leben kommen.
"Ein Problem von ganz Europa"
"Das Problem eines unserer Länder, wie jetzt Italien, muss als ein Problem von ganz Europa wahrgenommen werden", betonte der Kommissionspräsident. Barroso zeigte sich bestürzt über das Ausmaß der Tragödie. "Ich werde den Anblick dieser Särge niemals vergessen", sagte er. Auch Letta sprach von einem "europäischen Drama". Es handele sich um die schlimmste menschliche Tragödie im Mittelmeer. Für die Verstorbenen werde ein Staatsbegräbnis organisiert. Die Opfer hätten ein Recht auf ein solches Begräbnis, sagte Letta.
Die EU-Innenminister hatten sich bei ihrem jüngsten Treffen trotz heftiger Kritik zu keiner umfassenden Änderung ihrer Asylpolitik durchringen können. Demnach bleibt das Land, in dem ein Flüchtling die EU erreicht, für das Asylverfahren und die Unterbringung verantwortlich. Die EU-Staaten wollen Italien aber mit europäischen Grenzschützern von Frontex bei der Rettung von Flüchtlingen aus Seenot unterstützen. Eine EU-Expertengruppe soll weitere Hilfe für die Mittelmeerländer ausloten.
Friedrich kritisiert Forderung an Deutschland: "mangelnde Sachkenntnis"
Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wies in Luxemburg zugleich Kritik des Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), zurück. Dessen Forderung, Deutschland müsse mehr tun, beweise "mangelnde Sachkenntnis". "Deutschland ist das Land, das die meisten Flüchtlinge in Europa aufnimmt." Laut Statistik kamen in Deutschland 2012 rund 945 Asylbewerber auf eine Million Einwohner, in Italien dagegen nur 260. "Das zeigt, dass die Erzählungen, dass Italien überlastet ist mit Flüchtlingen, nicht stimmen", betonte der Minister. In dieser Statistik liegen aber andere Länder wie etwa Schweden oder Österreich mit weitem Abstand vorne.
Taucher brachten derweil nach Angaben der Nachrichtenagentur Ansa auch am Dienstag Dutzende weitere Leichen an Land, die Zahl der Opfer des Unglücks vor Lampedusa stieg damit auf 289.
Linkspartei-Chef nennt Friedrich einen "Hassprediger"
Linkspartei-Chef Bernd Riexinger wirft Bundesinnenminister Friedrich Hetze gegen Einwanderer vor. Friedrich nutze die Bootskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa "um Stimmung gegen Flüchtlinge zu machen", sagte Riexinger der "Mitteldeutschen Zeitung" (Online-Ausgabe). "Ein Innenminister, der sich als Hassprediger betätigt, ist eine Gefahr für die innere Sicherheit." Friedrich erzeuge ein Klima, "das braune Banden ermutigt".
Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) warnte unterdessen vor weiteren Flüchtlingskatastrophen vor den Toren Europas. "Für Asylsuchende muss es eine legale und sichere Möglichkeit geben, nach Europa einzureisen und hier Schutz zu suchen", sagte DRK-Vizepräsidentin Donata Freifrau Schenck zu Schweinsberg der Zeitung "Rheinische Post" (Mittwochausgabe). "Solange dies nicht gewährleistet ist, sind weitere schreckliche Flüchtlingsdramen wie jetzt vor Lampedusa mit zahlreichen Todesopfern zu befürchten."
Aktionsplan der EU-Kommission
Nach Klagen von Deutschland und anderen Staaten über sogenannte Armutseinwanderung präsentierte die EU-Kommission bei dem Luxemburger Treffen einen Aktionsplan. Demnach will die EU die Staaten dabei unterstützen, Scheinehen zu bekämpfen und die Wohnsitze der Einwanderer leichter zu ermitteln. Geld aus dem Europäischen Sozialfonds soll ab Januar 2014 verstärkt in die soziale Integration und den Kampf gegen Armut gesteckt werden.
Auslöser der Debatte sind Klagen deutscher Gemeinden über zunehmende Fälle von Einwanderern aus Rumänien und Bulgarien, die in Deutschland Sozialleistungen beantragen. Meist handelt es sich dabei um Angehörige der Roma-Minderheit.
Friedrich: "Es kann nicht sein, dass Freizügigkeit so missbraucht wird"
Friedrich forderte die EU auf, hart dagegen vorzugehen: "Es kann nicht sein, dass Freizügigkeit so missbraucht wird, dass man ein Land nur deswegen wechselt, weil man höhere Sozialhilfe haben möchte." Der Minister verlangte, klarzustellen, "ob wir diejenigen, die zur Leistungserschleichung nach Deutschland kommen, zurückschicken können und ihnen eine Wiedereinreisesperre auferlegen können."
Die EU-Kommission hält die Sorge Deutschlands für unbegründet. EU-Innenkommissarin Malmström sprach in Luxemburg von teils "stark übertriebenen" Bedenken. Grünen-Chefin Claudia Roth warf Friedrich Populismus vor.
Bulgarien und Rumänien sind seit 2007 EU-Mitglieder. Ab 2014 gilt für beide Staaten die volle Arbeitnehmer-Freizügigkeit in der EU. Manch einer - wie Friedrich - fürchtet, dass dann deutlich mehr Menschen aus diesen Staaten nach Deutschland kommen und die Sozialkassen belasten. Nach Statistiken stieg die Zahl der arbeitsuchenden Sozialhilfeempfänger aus diesen Ländern zwischen 2011 und 2012 in mehreren Städten erheblich - in Berlin um 38,8 Prozent, in München um knapp 60 Prozent. (rtr/dpa/afp)