Mogadischu. Johannes Dieterich berichtet für die WAZ aus Somalia. Beim Rückflug von Recherchen in der Piratenhochburg Bosaso wurden er und ein Kollege entführt. In diesem Text beschreibt er die Todesangst, die er litt - und stellt sich der Frage: Welchen Preis veranschlage ich für mein Leben?

Endlich raus hier. Weg von den vergangenen fünf Tagen in der somalischen Piratenhochburg Bosaso, die mit ihrem Frust, der Abzocke und – zugegeben – auch der Furcht zu den dunkelsten Kapiteln meines 52-jährigen Journalistenlebens zählten. Die Motoren der archaischen russischen Antonow brummen auf, die Piloten ziehen die Maschine in die Höhe, ich schließe die Auge und atme auf.

Sekunden später: lautes Geschrei. Vorne in der Kabine ist ein Mann aufgesprungen. Er schreit mir unverständliche Sätze auf Somali und fuchtelt mit etwas in der Hand herum: Es ist, auch beim zweiten Mal Hinsehen, eine Pistole. Kein Film, meldet mein Kopf, das ist echt. Man braucht kein Somali zu verstehen, um zu wissen, dass wir gerade entführt werden. Zum Thema Flugzeugentführungen meldet mein Kopf: Tagelanges Warten in brütender Hitze, Nerventerror, psychische, vielleicht auch physische Gewalt. Möglicherweise handelt es sich bei dem Entführer um ein Mitglied der berüchtigten somalischen Islamistengruppe al-Schabab, dann steht den beiden Europäern unter den rund 40 Fahrgästen – meinem Kollegen Arne Perras und mir – Scheußliches bevor.

Ein Schuss fällt. Mein Atem stockt. Schüsse im Flugzeug in der Luft: Das muss das Ende sein. Was vorne vor sich geht, kriege ich in der zehnten Sitzreihe nicht so genau mit – vor allem nachdem der Schuss gefallen ist, und ich mich hinter den Vordersitz verstecke. Später erfahre ich, dass die Entführer – der lange Mann mit dem blauen Hemd hatte offenbar noch einen Komplizen – ins Cockpit einzudringen suchten. Um dem Grund des Geschreis nachzugehen, hatte der ukrainische Flugingenieur offenbar die Tür zur Kabine geöffnet und – als er sich dem Pistolenmann gegenüber sah – sie schnell wieder zugerissen. Gerade noch rechtzeitig, bevor der Entführer in Kopfhöhe in den Stahl der Pforte schoss.

Was kommt beim Gebet nach "Lieber Gott"?

Die Männer, werde ich später erfahren, wollen nach Las Qoray – ein Küstenstädtchen knapp 15 Flugminuten von Bosaso entfernt. Doch der Chefpilot beschließt, nach Bosaso zurückzukehren, und dreht ab. Mehr Geschrei. Kinder heulen. Männer schreien die Entführer an, die schreien zurück. Frauen schreien Gebete. Wie betet man? Bei uns zuhause fing man damals mit „Lieber Gott…” an. Wie aber geht es weiter?

Flugzeugentführungen müssen nicht unbedingt tödlich verlaufen, meldet mein Kopf. Sie können auch glimpflich enden. Übermorgen hat mein Sohn seinen zwölften Geburtstag, und meine siebenjährige Tochter braucht mich noch. Wenn mich jemand braucht, dann sie. Ich kann sie nicht alleine lassen.

Der Steward verhandelt mit den Piraten

Wieder fallen Schüsse, vier, fünf, sechs. Menschen rennen durch die Kabine. Ein junger Mann wirft sich auf den freien Platz neben mir. Wir tauchen beide ab, so tief es geht. Offenbar haben die Entführer mitbekommen, dass der Pilot nach Bosaso zurückkehren will, und schießen wütend in die Cockpit-Tür. Die Maschine dreht leicht ab, wurde der Pilot getroffen? Unter uns ist jetzt das Meer zu sehen. Hinter mir ist eine junge Frau mit schwarzem Schleier und von Tränen nassem Gesicht aufgesprungen und schreit. Neben ihr steht der Stewart und schreit lauter.

Ich signalisiere, dass sie ruhig sein sollen: Mein nordischer Verstand sagt mir, dass Schreien die Entführer nur noch verrückter macht. Ich habe keine Ahnung, dass der Steward in Wirklichkeit gerade mit dem Luftpiratenchef verhandelt. Dass in diesem Geschrei bedeutungsvolle Worte gewechselt werden, ist mir unvorstellbar. Während des gesamten, wohl knapp halbstündigen Dramas verstehe ich kein Wort, weiß nicht wirklich, worum es eigentlich geht. Vielleicht es das auch gut so.

Ein Mullah schwört den rettenden Meineid auf den Koran

Die Piloten ändern immer wieder den Kurs. Jetzt sieht es so aus, als ob wir landen würden: Ich habe keine Ahnung wo. Bosaso verfügt lediglich über eine Sandpiste: Wir könnten genauso gut hier wie irgendwo in der Pampa sein. Später wird erzählt, der Entführer habe am Handy seine am Boden in Las Qoray wartenden Genossen gefragt, ob sie uns bereits sehen können. Die sagen Nein. Doch ein Mullah mit Bart und weißem Käppchen schwört den Entführern auf den Koran, dass wir tatsächlich in Las Qoray und nicht in Bosaso seien. Dann geht alles noch schneller als zuvor. Die Maschine ist noch nicht einmal zum Stillstand gekommen, als hinten die Tür geöffnet wird.

Wieder rennen Menschen schreiend durch den Gang, mein Nebenmann drückt sich über meinen Sitz nach unten, ich versuche mich noch unter ihn zu drücken, damit mein bleiches Gesicht nicht zu sehen ist. Wieder fallen Schüsse, diesmal draußen. Dann plötzlich Ruhe. Die ersten Passagiere stehen auf. Durch die Fenster auf der anderen Seite sind zwei am Boden liegende Gestalten zu sehen, auf die Soldaten eintreten und einprügeln. Mein Kopf sendet niedere Gedanken der Genugtuung: „Gib ihm auch von mir noch eine mit!”

Die Entführer waren blutige Anfänger

Mein drittes Leben beginnt. Das zweite fing vor 17 Jahren nach einem Flugzeugabsturz in Angola an. Später erzählt der Stewart, er habe die Tür nach der Landung schnell geöffnet, obwohl ihn die Entführer zu erschießen drohten. Als der Chef der Luftpiraten nach hinten gerannt kam, sei es ihm gelungen, den Entführer mit sich selbst aus der offenen Tür zu stürzen. Der Mann sei dann von den bereits wartenden Soldaten überwältigt worden.

Dem zweiten Entführer, der später ebenfalls nach hinten rannte, schossen die Soldaten ins Bein – dann wurde auch er überwältigt. Die beiden Luftpiraten hätten zuvor noch nie in einem Flugzeug gesessen, hieß es. Sie waren blutige Anfänger.

Auf Selbstmitleid folgt Scham

Unten auf dem Rollfeld erfahren wir als Erstes, dass die Entführung uns beiden Bleichgesichtern galt. Die Luftpiratenchef gab den Passagieren offenbar zu verstehen, dass sie nichts befürchten müssten: Sie hätten es lediglich auf die beiden Deutschen abgesehen. Jetzt ist mir zum Heulen zumute. Als ich kurz danach die noch immer vor Angst schlotternden Kinder neben mir sehe, wird das Selbstmitleid jedoch von der Scham abgelöst: Hätten wir nicht im Flugzeug gesessen, wäre den Kids das alles erspart geblieben.

Ich murmele etwas von „sorry” und würde meinen Beruf in diesem Moment gerne an den Nagel hängen. Immer mehr Leute mit Gewehren und Handys tauchen auf – unter ihnen auch der Sicherheitsminister der somalischen Puntlandprovinz, der für unsere Reise nach Bosaso im Vorfeld grünes Licht gegeben hatte. Am Vortag sagte uns der alte Mann in einem Interview, seine Regierung könne mit dem Piratenproblem schon fertig werden, wenn sie nur endlich mehr Unterstützung aus dem Ausland erhaltte. Von Luftpiraten sprach der Minister nicht: Schließlich ist es das erste Mal, dass im Seeräuberland Somalia ein Flugzeug entführt werden sollte.

Wie kamen die Pistolen an Bord?

Allmählich setzt sich ein vages Bild zusammen. Fest scheint zu stehen, dass wir zu den in Las Qoray wartenden Leuten gebracht werden sollten, die gewiss Lösegeld für unsere Freilassung erpressen wollten. Klar ist außerdem, dass die Entführer unsere Reisepläne kannten, und mit dem Flughafenpersonal unter einer Decke stecken: Denn irgendwie mussten die Pistolen ja durch die Kontrollen kommen. Vielleicht stehen die Hintermänner der Entführung jetzt neben uns. Möglicherweise sind es auch die Leute, mit denen wir in den vergangenen fünf Tagen zusammengearbeitet haben.

Nach langem Palaver und kurzer Inspektion der Maschine sagt die Crew, sie könne die Maschine trotz allem noch nach Dschibuti fliegen. Arne kann sich nicht vorstellen, wieder in die Maschine zu steigen. Ich kann mir nicht vorstellen, noch eine Minute länger als unbedingt nötig in Bosaso zu bleiben. Wir fliegen. Und befinden uns zwei Stunden später in Dschibuti in Sicherheit.

Wie dankt man einem Lebensretter?

Dort stellt sich das Problem, wie wir uns unserem Lebensretter erkenntlich zeigen können. Mit einem gemeinsamen Abendessen kann der Steward wenig anfangen: Ihm sei Bares lieber, gibt er zu verstehen. Das bedeutet, dass wir einen Wert für unser Leben festzulegen haben: Sieben Millionen US-Dollar, wie die somalischen Entführer des britischen Segler-Paares derzeit für die Freilassung ihrer Geiseln forden? Oder einen Dollar, den eine der Pistolenkugeln unseres Entführers kostete? Wir legen eine Summe irgendwo dazwischen fest.