München. Er war das erste Opfer des Nationalsozialistischen Untergrundes - und aus Sicht der Polizei zunächst des Drogenhandels und der Schutzgelderpressung verdächtig: Um Enver Simsek drehte sich der NSU-Prozess am Donnerstag. Dass der Tote von diesem Verdacht endlich befreit ist, erleichtert seine Familie.
Sie haben mehr als zehn Jahre auf Genugtuung warten müssen. Nach dem Mord an Enver Simsek im September 2000 haben die Nürnberger Ermittler auch gegen seine engsten Angehörigen ermittelt. Das bestätigte am Donnerstag vor dem Oberlandesgericht München einer der Kriminalbeamten, die damals ermittelten. Er räumte zudem ein, dass in den ersten Jahren nicht nach Tätern aus dem rechtsextremen Milieu gesucht wurde. „Dafür hatten wir keine Hinweise“, betonte der Beamte mehrfach.
Stattdessen waren Telefone der Familie Simsek belauscht worden, sogar das Familienauto soll zeitweilig verwanzt gewesen sein. Der Kriminalist bestätigte, dass bei den Ermittlungen unter anderem dem Verdacht des Drogenhandels und der Schutzgelderpressung nachgegangen wurde. Es soll auch Hinweise gegeben haben, dass ein Konkurrent des Blumengroßhändlers Simsek einen Killer auf diesen angesetzt hatte.
"Ich wünsche mir, dass jeder die gerechte Strafe bekommt"
Auf Nachfrage von Nebenklageanwalt Stephan Lucas erklärte der Nürnberger Kriminalbeamte, dass sich die Vorwürfe gegen die Familie Simsek nicht bewahrheitet haben. „Der heutige Zeuge hat erklärt, dass all diese Spuren falsch waren“, sagte der Anwalt nach Verhandlungsende. Künftig kann sich die die Familie Simsek immer darauf berufen.
Es sei ihr wichtig, persönlich hier zu sein, sagte Semyia Simsek, die Tochter des Ermordeten am Rande der Verhandlung. „Ich wollte aus dem eigenen Mund des Ermittlers hören, dass der Verdacht zu keinem Ergebnis geführt hat.“ Mit dem Prozessverlauf zeigte sich die Türkin zufrieden. „Am Anfang verlief es ziemlich schleppend, aber langsam geht es voran“, sagte sie. „Ich wünsche mir, dass jeder die gerechte Strafe bekommt und alle unserer Fragen aufgeklärt werden.“
Über die Erfahrungen der Familie ein Buch geschrieben
Semyia Simsek veröffentlichte über die Erfahrungen ihrer Familie nach dem Tod des Vaters ein Buch. Die 26-Jährige hat gerade einen Sohn zur Welt gebracht, nahm aber an der Verhandlung am Donnerstag wieder teil. Auf die Frage, ob es ihr etwas ausmache, dass nun auch die Steuerhinterziehung Enver Simseks wieder auf den Tisch komme, meinte sie: „Im Buch habe ich alles öffentlich gemacht. Das ist kein Geheimnis.“
Bilder zum NSU-Prozess
Von dem Ermittler habe sie vor Gericht keine Entschuldigung erwartet. „Der hat auch nur seinen Job gemacht“, sagte die junge Frau. „Aber später, von der ganzen Polizei.“
Am Tag des Mordes hat das Opfer nur aushilfsweise gearbeitet
Der 51-jährige Kriminalbeamte aus Nürnberg erzählte auf Nachfrage des Gerichts, dass Enver Simsek einen Blumengroßhandel geführt hatte. Zudem gehörten ihm drei mobile Verkaufsstände sowie ein Blumenladen. Am Tatort, einem der Blumenstände an einer Nürnberger Ausfallstraße, habe der 38-Jährige am Tag seiner Ermordung nur aushilfsweise gearbeitet.
Die Ermittlungen ergaben aber auch, dass der Großhandel auf die Ehefrau des Opfers zugelassen war. Der Getötete selber sei arbeitslos gemeldet gewesen, habe aber die Erlaubnis gehabt, einige Stunden bei seiner Frau arbeiten zu dürfen. Ein Finanzstrafverfahren habe dazu geführt, dass 65.000 Euro Steuern nachgezahlt werden mussten, erzählte der Ermittler dem Gericht im Beisein der Angehörigen. Das Mordopfer wurde als strenggläubiger Muslim und lieber Vater für seine beiden Töchter beschrieben, der keine Feinde gehabt haben soll.
Simsek war das erste Opfer des NSU
Enver Simsek war das erste von zehn Opfern, die der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) ermordet haben soll. Neun der zwischen 2000 und 2006 Erschossenen hatten griechische oder türkische Wurzeln. Das zehnte im Jahr 2007 erschossene Opfer war die aus Thüringen stammende Polizeibeamtin Michéle Kiesewetter.
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Rückendeckung für NSU-Verteidiger
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„Wenn Rechtsanwälten - und gerade Strafverteidigern - die professionelle Vertretung einer bestimmten Person zum Vorwurf gemacht werden könnte, würde der Rechtsstaat darunter leiden.“ Es sei eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit, dass jeder Mensch das Recht auf eine professionelle Strafverteidigung und damit auf professionell arbeitende Rechtsanwälte habe, so der Interessenvertretung der Anwälte.