Essen. Der erste Jahrgang hat die Schulzeitverkürzung an Gymnasien überstanden. Von einem Leistungsverfall kann nicht die Rede sein. Schüler und Lehrer klagen aber über den gestiegenen Druck. Allerdings stellen immer mehr Schulen Hausaufgaben und alte Strukturen auf den Prüfstand.

Sechs Stunden Unterricht, der Lehrer steht am Pult, redet, fragt, diktiert eine Menge Hausaufgaben, die nach dem Mittagessen mehr oder weniger sorgfältig zu Hause erledigt werden: Jahrzehntelang funktionierte so das Gymnasium – doch seitdem der Unterrichtsstoff von neun Jahren bis zum Abitur in acht gepresst wurde, ist auf die alten gymnasialen Riten kein Verlass mehr.

Anders gesagt: Nichts hat das Gymnasium so sehr durcheinandergewirbelt wie die Schulzeitverkürzung (G8). Und nun hat der erste G8-Jahrgang mit den traditionellen G9ern die Abiturprüfungen überstanden. Das Ergebnis: 1. Es gibt eine Menge Abiturienten in diesem Jahr. 2. Wer mehr drauf hat – die G8er oder die G9er – ist kaum auszumachen. Die Jüngeren sind jedenfalls nicht schlechter, mitunter einen Hauch besser, wie eine Umfrage dieser Zeitung an Gymnasien überall im Ruhrgebiet ergab. Offizielle Zahlen will das Schulministerium zu Beginn des neuen Schuljahres herausgeben.

„In der Unter- und Mittelstufe war eine Menge grenzwertig“

Für Peter Silbernagel, Vorsitzender des nordrhein-westfälischen Philologenverbandes, ist dies ein gutes Ergebnis. Wenn die G8er es nicht geschafft hätten, das Niveau zu halten – „das wäre es eine „Katastrophe“, sagt Silbernagel. Womöglich hätte man dann die Schulzeitverkürzung generell in Frage stellen müssen.

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Von Birgitta Stauber-Klein

Dass die jungen Abiturienten acht schwere Jahre hinter sich haben – das bestätigt Silbernagel durchaus. „In der Unter- und Mittelstufe war sicherlich eine Menge grenzwertig“, sagt er. Neue Bücher fehlten, Lehrer hielten sich strikt an die gewohnten Lehrpläne, der Tag war überfrachtet mit Hausaufgaben, die Verpflegung der Schüler, die oft bis in den Nachmittag hinein an der Schule bleiben müssen, war schwierig. Kurz: Der Schulalltag war geprägt von Improvisation, „die Schüler standen von der fünften Klasse an unter einem gewissen Leistungsdruck“, sagt Silbernagel. Ein Leistungsdruck, der die Jungen und Mädchen offenbar disziplinierte und zu Fleiß anhielt.

Für Ilse Führer-Lehner von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist die verkürzte Gymnasialzeit denn auch eine enorme Belastung für die Heranwachsenden. „Die gehen da durch und lernen“, sagt die Referentin für Bildungspolitik. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie – wie überhaupt die GEW – wenig von der Schulzeitverkürzung hält. Und doch erkennt die Gewerkschaftsfrau an, dass sich die Leistungen des Doppeljahrgangs kaum unterscheiden. Nun, sagt sie, „müssen wir bei den jüngeren Jahrgängen den Druck rausnehmen“.

Die 67,5-Minuten-Schulstunde kommt

Tatsächlich ist in den Gymnasien eine Menge in Bewegung. Immer mehr Schulen verabschieden sich von den 45-Minuten-Einheiten. Intensiver lernt es sich in Doppelstunden, doch die sind oft zäh. Also stellen einige Gymnasien – so die Essener BMV-Schule – auf 67,5-Minuten-Einheiten um. Dabei werden die Minuten von drei Schulstunden addiert und durch zwei geteilt. Statt sechs Fächer werden an einem Vormittag dann nur noch vier unterrichtet – das entlastet die Schulrucksäcke, führt zu kürzerem Nachmittagsunterricht und weniger Hausaufgaben. Die Lehrer des Oberhausener Elsa-Brändström-Gymnasium verzichten inzwischen ganz darauf, die Schüler zu Hause den Lernstoff nacharbeiten zu lassen. Das Burggymnasium Essen lässt Schüler zu Hause nur noch Vokabeln lernen oder Lektüren lesen. „Der Unterrichtsstoff wird nicht mehr in die Freizeit verlagert“, erklärt dieses Prinzip Lars Leisner von der Landeselternschaft der Gymnasien in NRW.

Der Elternvertreter ist überzeugt, dass die Gymnasien inzwischen auf einem guten Weg sind, die Balance zwischen Leistungsdruck und Freizeit wieder zu erlangen. „Zurück zu G9 – das wäre jedenfalls ein Fehler“, sagt er.

Schulen brauchen Ruhe

Die GEW wünscht sich zwar eine längere Schulzeit. Aber im Moment sollten die Schulen, die auch noch den gemeinsamen Unterricht mit Behinderten (Inklusion) und die damit verbundene individuelle Förderung stemmen müssten, in Ruhe gelassen werden.

Der G9-Abiturient Anton Berkovic ist da anderer Meinung. „Der jüngere Jahrgang hatte es schwerer“, sagt er in Erinnerung an das erste gemeinsame Halbjahr in der Oberstufe. „Nur mit viel Fleiß haben es die G8er geschafft, den Anschluss zu bekommen“. Immerhin lobt er das jahrgangsübergreifende Lernen. „Wir Abiturienten sind zwischen 16 und 21 Jahren alt. Das ist schon etwas Besonderes“.