Essen. . Was die Proteste in Brasilien und in der Türkei eint: Trotz des wirtschaftlichen Wachstums der vergangenen Jahre wächst die Unzufriedenheit vor allem junger Menschen. In beiden Ländern gehen die gut ausgebildeten Kinder der Mittelschicht auf die Straße. Sie haben nicht den Umsturz im Sinn, sondern kämpfen für ihre Chancen.

Wie sich die Bilder gleichen. Straßenschlachten in Istanbul, Gewalt in Rio de Janeiro: brennende Barrikaden, Wasserwerfer, Tränengas, Panzerfahrzeuge, Polizeikolonnen, blutende Demonstranten, Steinewerfer.

Während in der Türkei angespannte Ruhe eingekehrt ist, erreichen die Proteste in Brasilien mit rund einer Million Demonstranten einen neuen Höhepunkt. Bei Kundgebungen in 100 Städten kam es erneut zu Straßenschlachten, allein in Rio protestierten 300.000. Hunderte wurden verletzt, ein 18-Jähriger starb. Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef rief ihre Regierung zu einer Krisensitzung zusammen, die Börsenkurse knickten ein.

Tränengas für die Türkei

130.000 Tränengaspatronen soll die türkische Polizei während der vor drei Wochen ausgebrochenen Unruhen verschossen haben. Wie es heißt, wurden viele davon in Brasilien hergestellt – ausgerechnet. Nicht nur der beißende Rauch der Gasschwaden in den Straßen von Istanbul und Rio ist gleich, auch die Stoßrichtung der Proteste scheint trotz verschiedener Hintergründe ähnlich: mehr Freiheit, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Chancen, weniger Bevormundung.

In Istanbul wie in Rio waren es vermeintlich Kleinigkeiten, an denen sich die Gewaltspirale entzündete: hier die geplante Bebauung eines beliebten Parks, dort die Erhöhung der Fahrpreise.

Die Wucht der Proteste ist nur durch den Symbolgehalt der staatlichen Maßnahmen erklärbar. Der beliebte Bürgerpark sollte einem traditionalistischen Bauwerk weichen; und in dem erhöhten Fahrpreis fokussierte sich die Wut über allgemein gestiegene Kosten für Lebensmittel und Mieten, die verarmte Bewohner aus den Zentren der Städte in die Randgebiete treibt.

Wirtschaftlicher Aufschwung

In beiden Ländern entstand durch den wirtschaftlichen Aufschwung eine Mittelschicht, die ihre Kinder in gute Schulen schickt, informiert und mündig ist. Getragen werden die Proteste daher vor allem von gut ausgebildeten Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der Mittelschicht, die nicht nur mehr Kaufkraft verlangen, sondern besseren Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die nach demokratischer Mitwirkung suchen und sich gegen staatlichen Dirigismus stemmen, die ganz einfach ihr Leben selbst gestalten wollen.

Neu ist zudem der breite Rückhalt für die Proteste, auch eine bildungsfreundliche und aufgeklärte Oberschicht in der Türkei sowie wohlsituierte Bürger in Brasilien zeigen Sympathien. Die Angriffspunkte sind vielfältig: Der Staat, die Machthaber, die Banken, die Wirtschaft, die Globalisierung. Das macht es so schwierig, der Bewegung zu begegnen.

Kluft zwischen Arm und Reich

Erdogan wie Roussef geben sich verblüfft: Wurde nicht viel getan, um das Land aus der Misere zu führen? Geht es den Menschen nicht viel besser als vor zehn Jahren?

Soziale Ungleichheit sowie schlechte Aufstiegschancen sieht der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge als ein Treibstoff der Proteste. „Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs ist die Kluft zwischen Arm und Reich in Brasilien noch riesig.“ Dadurch steige die Bereitschaft, sich einzumischen und Forderungen zu stellen. Getragen werde die Bewegung vor allem von politisch interessierten Leuten.

Stiller Protest im Stehen

So geht Protest ganz leise: Erdem Gunduz...
So geht Protest ganz leise: Erdem Gunduz... © dpa
... stand am Montag stundenlang regungslos auf dem Taksim-Platz in Istanbul...
... stand am Montag stundenlang regungslos auf dem Taksim-Platz in Istanbul... © REUTERS
... und schaute auf das Porträt von Staatsgründer Atatürk. Nach und nach...
... und schaute auf das Porträt von Staatsgründer Atatürk. Nach und nach... © AFP
... bemerkten andere die stille Protestaktion und schlossen sich ihm an. Unter dem Hashtag #duranadam -
... bemerkten andere die stille Protestaktion und schlossen sich ihm an. Unter dem Hashtag #duranadam - "stehender Mann" - ging die Aktion durch die Sozialen Netzwerke. © AFP
Und sie fand Nachahmer: Dieser Mann tut es Erdem Gunduz am Montagabend ebenso gleich...
Und sie fand Nachahmer: Dieser Mann tut es Erdem Gunduz am Montagabend ebenso gleich... © AFP
... wie dieser am Dienstag.
... wie dieser am Dienstag. © REUTERS
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © REUTERS
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © REUTERS
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © REUTERS
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © dpa
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © dpa
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © dpa
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen
Noch mehr Türken schließen sich dem stillen "Duranadam"-Protest an. © dpa
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Ähnlich sieht es der Sozialpsychologe Harald Welzer: „Viele junge, gut ausgebildete Leute suchen ihre Chance, doch es fehlen die Aufstiegskanäle, was großen sozialen Sprengstoff birgt.“ Er spricht daher von einem „Generationenkonflikt“. Hier sieht er auch eine Parallele zu den arabischen Ländern, die wiederum als Vorbild für die jüngsten Revolten gedient haben könnten.

In Spanien genügt ein Funke

Das Erstaunliche daran sei, dass sie, sowohl in Istanbul wie auch in Rio, so unerwartet ausgebrochen seien. „Die Anlässe, an denen sich die Konflikte entzündeten, sind nicht vorhersehbar gewesen.“

Wieder Demos in Brasilien

Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
Massenproteste in Brasilien:  Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen.
Massenproteste in Brasilien: Im ganzen Land gehen Menschen auf die Straße, um auf Missstände aufmerksam zu machen. © dpa
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Die harte und repressive Reaktion der Staatsmacht habe die Protestdynamik dann jeweils deutlich verschärft. Dieser Funke könne auch jederzeit in Spanien oder Griechenland überspringen, glaubt Welzer. „Es ist in einer Demokratie nicht möglich, auf Dauer die Hälfte der jungen Generation ohne Chancen zu lassen.“