Düsseldorf. . Michael Sommer ist seit 2002 DGB-Vorsitzender. Damals wurden Gewerkschaften als Dinosaurier des Industriezeitalters ausgelacht. Heute wirkt Sommer selbstbewusst wie lange nicht mehr. Denn SPD und CDU im Bundestagswahlkampf zeigen: Der Zeitgeist tickt gewerkschaftsnah.

Michael Sommer trägt ein Oberhemd mit eingestickten Initialen und wirkt selbstbewusst wie lange nicht. Der 61-jährige DGB-Vorsitzende freut sich über wieder wachsende Gewerkschaften und einen sozialpolitisch geprägten Bundestagswahlkampf. Er fordert aber eine Wende in der Arbeitswelt.

Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr, dennoch fordert der DGB eine „Neue Ordnung der Arbeit“. Welchen Missstand beklagen Sie?

Sommer: Die relativ niedrigen Arbeitslosenzahlen sind erfreulich, kaschieren aber die Spaltung am Arbeitsmarkt. Mehr als 20 Prozent der Beschäftigten arbeiten heute in prekärer Beschäftigung, also in erzwungener Teilzeit, in Leiharbeit oder in Billigjobs mit Abhängigkeit zu Aufstockerleistungen des Staates. Außerdem ist die Tarifbindung in einigen Branchen nicht mehr die Norm, sondern droht zur Ausnahme zu werden.

Sind Befristungen, Mini-Jobs oder Leiharbeit nicht auch Wege des Einstiegs oder Wiedereinstiegs in den Arbeitsmarkt?

Sommer: Nein. Die Arbeitgeber nutzen diese Instrumente gezielt als Flexibilitätsreserve und denken gar nicht daran, die Menschen in reguläre Arbeitsverhältnisse zu übernehmen. Der von der Politik versprochene „Klebeeffekt“ ist nie eingetreten.

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Es gibt nicht überall globalen Wettbewerb

Ist die Alternative nicht bloß eine höhere Arbeitslosigkeit?

Sommer: Nein. Wir sehen im Exportsektor, dass die deutsche Wirtschaft mit sehr gut bezahlter Arbeit, sehr vielen und gesicherten Vollzeitstellen und relativ wenig Leiharbeit erfolgreich sein kann. Schlecht bezahlte Arbeit und prekäre Beschäftigung gibt es zum Beispiel im Dienstleistungsbereich oder der Pflege, die überhaupt nicht im internationalen Wettbewerb stehen. Dort gibt es zu viele Arbeitgeber, die einfach nicht besser bezahlen wollen und ihren Mitarbeitern sagen, sie sollen sich zum Leben halt Hartz-IV-Aufstockerleistungen holen. Das geht so nicht weiter.

Statt in der Leiharbeit werden Dumpinglöhne nun bei Werkverträgen gezahlt. Dagegen gibt es bisher kein Konzept der Gewerkschaften.

Sommer: Wir haben auch hier Vorschläge gemacht. Aber wenn wir ein Loch der deregulierten Arbeit zuschütten, graben einige Arbeitgeber bereits das nächste. Ich begrüße, dass sich SPD und CDU des Problems der Werkverträge angenommen haben. Doch wir brauchen insgesamt eine neue Ordnung der Arbeit, die der Kreativität der Arbeitgeber beim Umfahren von sozialen Leitplanken endlich Grenzen setzt.

Ein Mindestlohn von 8,50 Euro wäre nur der Anfang

Der Mindestlohn, den Sie fordern, liegt seit Jahren unverändert bei 8,50 Euro. Damit wäre keinem Familienernährer geholfen, der immer noch auf Hartz IV angewiesen wäre.

Sommer: Mehr zu fordern, heißt noch lange nicht, mehr zu erreichen. Wir wollen mit dem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro eine klare Normgröße erreichen, die unabhängig von Regionen, Branchen oder Lebensalter gilt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mindestlohn nach der Bundestagswahl kommt. Danach wird es selbstverständlich regelmäßige Erhöhungen geben müssen.

Die Gewerkschaften gewinnen wieder Mitglieder. Die IG Metall, weil sie viel für Azubis und Leiharbeiter erreicht hat; Verdi durch eine aggressivere Streik-Strategie. Welcher Weg ist der bessere?

Sommer: Es gibt unterschiedliche Wege, sich für die Arbeitsinteressen unserer Mitglieder einzusetzen. Entscheidend ist, dass wir in den vergangenen Jahren unser Profil geschärft haben. Gewerkschaften sind keine Ersatzpartei, kein Sozialverband und keine Vereinigung zur Verbesserung der Welt, sondern die Organisation der Arbeit. Die Gewerkschaften in Deutschland wachsen wieder und das erhöht unsere Durchschlagskraft. Ich gehe davon aus, dass wir Ende des Jahres in allen DGB-Einzelgewerkschaften eine positive Mitgliederentwicklung vermelden können.

Soziale Themen beherrschen den Wahlkampf

SPD und CDU liefern sich in diesem Bundestagswahlkampf einen sozialpolitischen Wettlauf. Tickt der Zeitgeist gewerkschaftsnah?

Sommer: Es ist richtig, dass es uns in jahrelanger Vorarbeit gelungen ist, die zentralen sozialpolitischen Themen dieses Bundestagswahlkampfes zu setzen. Doch die tatsächliche Wende in der Arbeitsmarktpolitik muss folgen. Wir wollen erreichen, dass die neue Bundesregierung, egal wie sie aussieht, an Kernelementen wie einem gesetzlichen Mindestlohn, dem Schutz der Tarifautonomie und dem Kampf gegen Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen nicht vorbeikommt.

In den Einzelgewerkschaften vollzieht sich ein Generationswechsel, auch Sie wollen 2014 nach dann zwölf Jahren Ihren Platz an der DGB-Spitze räumen. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Sommer: Als ich 2002 DGB-Vorsitzender wurde, wurde ich als Dinosaurier des Industriezeitalters beschimpft. Die Gewerkschaften galten damals als gesellschaftspolitische Paria, als Teil des Problems. Heute sind wir wieder Teil der Lösung. Mit einem Kurs der parteipolitisch unabhängigen Einheitsgewerkschaft, der konsequenten Hinwendung zur Arbeit und zum Betriebsleben haben wir die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland konsolidiert. Wir wurden totgesagt, aber wir sind so vital wie lange nicht.