Washington/Berlin. Die US-Regierung hat sich unter wachsender Kritik erstmals ausführlicher zu Berichten über die Daten-Sammlung im Internet geäußert. Das System “PRISM“ sei kein Daten-Staubsauger. Den Medien wurden “bedeutende Fehldarstellungen“ vorgeworfen. Auch deutsche Politiker beschäftigen sich mit dem Thema.

Der Direktor der US-Geheimdienste James Clapper hat das Internet-Überwachungsprogramm seines Landes mit Nachdruck verteidigt. Es sei legal, nicht gegen US-Bürger gerichtet und habe die USA vor Bedrohungen geschützt, erklärte er am Samstag.

Die Zeitungen "Washington Post" und "Guardian" hatten berichtet, dass sich der Geheimdienst NSA mit dem "PRISM"-System einen direkten Zugang zu Daten von Nutzern bei großen Internet-Konzernen verschaffen könne. "Sie können buchstäblich sehen, wie Ihre Ideen entstehen, wenn Sie tippen", sagte ein Informant der "Washington Post".

US-Regierung prüft juristische Schritte

Clapper kritisierte "leichtsinnige Enthüllungen" und warf den Medien vor, "bedeutende Fehldarstellungen" verbreitet zu haben. Wichtige Informationen seien außer Acht gelassen worden, etwa die Tragweite, wie stark die Überwachungsprogramme von allen drei Staatsgewalten beaufsichtig würden. Er bestätigte dabei erstmals den Projektnamen "Prism".

Das Überwachungsprogramm sei völlig legal, erklärte er in Washington und ergänzte: "In ihrer Hast zu publizieren, haben die Medien nicht den gesamten Kontext berücksichtigt." Nach Angaben von Obamas Vizesicherheitsberater Ben Rhodes prüft die US-Regierung juristische Schritte gegen die Veröffentlichungen.

Parallel zu der Erklärung veröffentlichte die US-Regierung Hintergrundinformationen zu dem Programm. Dabei soll es sich um ein "internes Computersystem der Regierung" handeln, mit dem diese leichter Informationen bearbeiten könne, die sie von Internet-Dienstleistern erhalte. Die Regierung könne nur dann eine Internet-Überwachung anordnen, wenn es einen "zulässigen und dokumentierten geheimdienstlichen Zweck im Ausland" gebe. Darunter fielen der Kampf gegen den Terrorismus, die Verbreitung von Waffen und Cyberbedrohungen. In früheren Erklärungen der US-Regierung zu dem Thema waren die letzten beiden Punkte bislang nicht aufgelistet worden.

US-Internetkonzerne haben kaum eine juristische Handhabe

Das als "Prism" bekanntgewordene Programm stützt sich auf Abschnitt 702 des Foreign Intelligence Surveillance Act (FISA). Das zuletzt 2008 aktualisierte Gesetz erlaubt der Regierung den Zugang zu elektronischen Daten von Nicht-US-Bürgern, wenn diese eine Bedrohung der nationalen Sicherheit darstellen. Die Anforderungen müssen von einem besonderen Gericht, dem Foreign Intelligence Surveillance Court, genehmigt werden. Das ist der Normalfall: Nach Unterlagen des US-Justizministeriums stimmte das Gericht im vergangenen Jahr allen bis auf einen von 1856 Anträgen zu. Der eine wurde zurückgezogen, bevor das Gericht ein Urteil fällte.

Alle Entscheidungen des Gerichts sind dabei geheim. Experten zufolge werden den Unternehmen auch keine Einzelheiten über die Fälle mitgeteilt. Da Firmenanwälte sich nicht Ermittlungen entgegenstellen wollen, die vielleicht einen Terror-Anschlag verhindern könnten, führt dies zumeist zu einer engen Zusammenarbeit der Konzerne mit den Behörde. Ihnen steht im Gegenzug für die Kooperation per Gesetz eine Entschädigung sowie Straffreiheit zu. Zwar könnten die Unternehmen beim Gericht Einspruch einlegen und den Fall theoretisch bis zum Obersten Gericht durchklagen. Es ist allerdings nicht bekannt, ob jemals Widerspruch angemeldet wurde.

"Guardian" setzt Enthüllungen fort 

Der "Guardian" setzte unterdessen seine Enthüllungsserie fort und berichtete von einem System der NSA, das einen Überblick über die weltweit gesammelten elektronischen Informationen gebe. Es heiße "Boundless Informant" (etwa: grenzenloser Informant) und zeige unter anderem an, wie sich die Daten auf einzelne Länder verteilen. Allein im März habe die NSA laut dem System 97 Milliarden Daten-Einheiten aus Computer-Netzwerken in aller Welt gesammelt. Davon entfielen 14 Milliarden auf den Iran und 13,5 Milliarden auf Pakistan, wie der "Guardian" berichtete.

Die Chefs von Google und Facebook wiesen mit Nachdruck den Vorwurf zurück, dem US-Geheimdienst uneingeschränkten Zugang zu Nutzer-Daten zu gewähren. "Wir sind keinem Programm beigetreten, das der US-Regierung oder jeder anderer Regierung direkten Zugang zu unseren Servern gewährend würde", schrieb Google-Mitgründer Larry Page in einem Blogeintrag. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg äußerte sich ähnlich und versicherte, dass sein Online-Netzwerk sich gegen jede Anfrage nach freiem Daten-Zugang "aggressiv" gewehrt hätte.

Die Internet-Konzerne - genannt wurden in den Zeitungsberichten neben Google und Facebook unter anderem auch Apple, Microsoft und Yahoo - bestätigten zugleich, dass sie den Behörden Informationen auf Gerichtsbeschluss zur Verfügung stellen.

Die "New York Times" berichtete an Samstag von Systemen für diese Datenübergabe. So sei zumindest mit Google und Facebook über "separate, sichere Portale" dafür verhandelt worden, zum Teil auf Servern der Unternehmen. Der Bericht ließ offen, ob diese Ideen umgesetzt wurden. Es hieß, mehrere Unternehmen hätten den Behörden den Zugriff auf rechtmäßig angeforderte Daten erleichtert und dafür zum Teil ihre Computersysteme angepasst.

Opposition - Merkel muss Bespitzelung bei Obama ansprechen 

Grüne und SPD haben Bundeskanzlerin Angela Merkel unterdessen aufgefordert, die weltweite Internet-Überwachung durch US-Geheimdienste beim bevorstehenden Besuch von US-Präsident Barack Obama anzusprechen. Der US-Präsident wird am 18. Juni zu einem Besuch in Berlin erwartet.

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"Diese Affäre hat den Anschein, einer der größten Skandale in puncto Datenweitergabe zu werden" sagte Grünen-Fraktionschefin Renate Künast der Nachrichtenagentur Reuters am Samstag. "Da kann Frau Merkel nicht einfach drüber wegsehen und einen auf 'nichts passiert' machen. Es ist die Pflicht der Bundesregierung, ihre Bürger vor solchen Bespitzelungen zu schützen."

Auch der außenpolitische Sprecher der SPD, Rolf Mützenich, sagte Reuters: "Dies gehört auf die Agenda der Gespräche beim Obama-Besuch." Er warnte, dass die Berichte über die Bespitzelung das Misstrauen gegen ein transatlantisches Freihandelsabkommen vergrößern könnten.

Beide Politiker forderten Konsequenzen, auch wenn sie den US-Präsidenten teilweise in Schutz nahmen. "Zwar hat Obama diese Suppe nicht angesetzt, doch hätte er sie schnellstmöglich wegkippen müssen", sagte Künst mit Verweis darauf, dass das "Prism"-Programm schon unter US-Präsident George Bush gestartet worden war. Mützenich verwies darauf, dass Obama in den USA innenpolitisch mit "einer sehr konservativen Vorstellung von Sicherheitspolitik" etwa im US-Kongress konfrontiert sei. Dies erschwere Reformen.

Beratungen in den Parlamenten in Berlin und London

Der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar sagte am Samstag dem WDR, die Bundesregierung müsse sich für einen Stopp solcher Programme einsetzen. Der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach (CDU), sagte der Zeitung "Die Welt", er gehe davon aus, dass sich der Ausschuss mit diesem Thema "intensiv beschäftigen" werde.

Der Innen- und Rechtsexperte der FDP-Bundestagsfraktion, Hartfrid Wolff, erklärte, das Kontrollgremium für die Geheimdienste im Bundestag werde sich mit dem Thema befassen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, forderte die Bundesregierung zum Handeln auf. "Eine Totalüberwachung aller Bundesbürger" sei "völlig unangemessen", erklärte er.

Auch im britischen Parlament soll sich das für die Geheimdienste zuständige Gremium der Thematik annehmen. Er erwarte in den kommenden Tagen, möglicherweise bereits am Montag, einen Bericht der Regierung, erklärte der Vorsitzende des Gremiums, Malcolm Rifking. Auf dieser Grundlage solle dann entschieden werden, "welche Maßnahmen ergriffen werden müssen".

Polizeigewerkschaft unterstützt US-Regierung 

Ebenfalls in London sagte Wikileaks-Gründer Assange der Nachrichtenagentur AFP, ihn erzürne der Versuch der US-Regierung, sich von Spionagepraktiken "reinzuwaschen". Der 41-Jährige hält sich derzeit in Ecuadors Botschaft auf und fürchtet unter anderem eine Auslieferung an die USA, wo ihm wegen der Veröffentlichung geheimer US-Depeschen der Prozess gemacht werden könnte.

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Unterstützung erhielt die US-Regierung vom Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. In Deutschland regierten "völlig überzogener Datenschutz, föderaler Egoismus und wilde Überwachungsfantasien", sagte er dem Portal "Handelsblatt Online". Im Ergebnis würden schwere Verbrechen nicht aufgeklärt, weil etwa Telekommunikationsdaten gelöscht seien.

Deutschland erhält keine Rohdaten aus US-Überwachung

Deutschland erhält deutschen Sicherheitskreisen zufolge keine Rohdaten aus der amerikanischen Überwachung von Telefon- und Internetdaten. "Wir bekommen von den Amerikanern regelmäßige Hinweise auf Gefährdungen oder verdächtige Personen in Deutschland. Aber woher diese Erkenntnisse kommen, ist daraus nicht ersichtlich", erfuhr die Nachrichtenagentur Reuters am Samstag aus den Kreisen. Die Einschätzungen könnten auch auf ganz anderen Geheimdienst-Quellen und Informationen beruhen. Die deutschen Sicherheitsbehörden seien ohnehin nur nach den hierzulande geltenden Vorschriften aktiv.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zu "Prism" 

Bekommen die US-Geheimdienste nun Informationen von amerikanischen Internet-Unternehmen?

Ja, und das ist auch seit Jahren bekannt. Nach dem "Patriot Act" können Behörden mit Gerichtsbeschluss Zugang zu Informationen bekommen. Das neue an den Berichten über ein Programm Namens "PRISM" wäre der freie Zugang zu den Servern von Google, Facebook und Co. statt eines punktuellen Zugriffs. Sowohl die Regierung als auch die Unternehmen weisen dies zurück. Laut US-Geheimdienstkoordinator James Clapper ist "PRISM" nur ein internes Computersystem der Behörden.

Wie glaubwürdig sind die Dementis der Internet-Konzerne?

Sie sind ähnlich formuliert und beziehen sich auf einen "direkten Zugriff" auf Server der Unternehmen. Zugleich klingen einige davon auch sehr persönlich und aufrichtig. So versicherte der Chefentwickler des Online-Netzwerks Google+, Yonathan Zunger, er würde kündigen, wenn er davon Wind bekäme. Und er sei in einer Position bei Google, in der er eine so groß angelegte Spionage-Aktion eigentlich hätte mitkriegen müssen. Zunger ist offen in seiner "Abscheu" für die NSA: "Wir haben nicht den Kalten Krieg geführt, damit wir die Stasi nachbauen können".

Könnte die NSA die Daten auch ohne Kooperation der Internet-Firmen bekommen?

Absolut. Und Zunger beschreibt eine Möglichkeit dafür: Sie könnten den Datenstrom bei den Anbietern von Internet-Zugängen abgreifen und Datenpakete mit Bezug zum Beispiel zu Facebook oder Google herausfiltern.

Gibt es Anhaltspunkte dafür?

Die "New York Times" zitierte am Wochenende einen Juristen "einer Technologiefirma", der berichtete, wie die NSA einen Agenten ins Hauptquartier des Unternehmens abkommandiert habe, um den Verdächtigen in einem Cyberangriff zu überwachen. Der Agent habe von der Regierung entwickelte Software auf dem Server installiert und sei für mehrere Wochen geblieben, um Daten in ein Notebook der Agentur herunterzuladen. In anderen Fällen fordere die NSA Echtzeit-Daten an, die dann digital übermittelt würden.

Wenn der US-Geheimdienst tatsächlich nur Zugang zu den Daten punktuell und mit Gerichtsbeschluss bekommt, wie erklärt sich dann der Satz des "Washington Post"-Informanten, der sagte: "Sie können buchstäblich sehen, wie Ihre Ideen entstehen, wenn Sie tippen"?

Das muss kein Widerspruch sein. Der amerikanische Journalist und Geheimdienst-Experte Marc Armbinder beschreibt das Funktionieren des "PRISM"-Systems so: Zum Beispiel könnte Facebook die Anordnung bekommen, Informationen über alle Profile aus Abbottabad in Pakistan herauszurücken, angenommen, es gibt 50 davon. "Diese Accounts werden ständig aktualisiert. Also erstellt Facebook eine "Spiegel"-Version der Inhalte, zu der nur die NSA Zugang hat. Die ausgewählten Profile werden in Echtzeit sowohl auf dem Facebook-Server als auch auf dem gespiegelten Server aktualisiert. "PRISM" ist das Werkzeug, das das alles zusammenbringt."

Die US-Regierung betont, dass die Überwachung und die Verwendung der Daten strikt überwacht werden, von wem?

Die Abläufe bleiben komplett im geheimen Bereich. Die Geheimdienst-Anfragen nach Nutzer-Daten müssen zwar von einem Gericht bewilligt werden - aber es ist ein speziell dafür geschaffenes Gericht mit elf Richtern. Die Anfragen sind so geheim, dass die Unternehmen selbst über ihre Existenz schweigen müssen. (dpa/rtr/afp)