Essen. Pharmakonzerne haben in den 1980er Jahren tausende ostdeutsche Klinikpatienten benutzt, um Medikamente zu testen. Die Probanden waren meist ahnungslos, entgegen den Regeln internationalen Rechts wurden sie nie um eine Einwilligung gefragt. Die DDR besserte so ihre Devisenkasse auf.
Westdeutsche, österreichische, schweizerische und japanische Pharmakonzerne haben zwischen 1983 und dem Mauerfall 1989 Medikamente an mehreren Tausend ostdeutschen Klinikpatienten erproben lassen. Diese waren oft ahnungslos und sind – entgegen den Regeln des internationalen Rechts – nie um eine Einwilligung gebeten worden.
Nach Berichten des Berliner „Tagesspiegel“ und des Mitteldeutschen Rundfunks kam es zu insgesamt 165 Versuchsreihen. Auch mehrere Todesfälle („plötzlicher Herztod“) stehen offenbar in diesem Zusammenhang.
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Die DDR managte die Menschenversuche über ihr Gesundheitsministerium. Das hatte 1983 den Finanzierungsweg zur Aufbesserung der Devisenkasse „erfunden“ und dankbaren Westfirmen angeboten. In der Bundesrepublik war zu dem Zeitpunkt gerade ein verschärftes Zulassungsverfahren in Kraft getreten, dem sie so ausweichen konnten. Auch sollen die Verträge die Haftung der Firmen ausgeschlossen haben.
Mittel gegen Krebs und Bluthochdruck im Test
So testeten nach Erkenntnissen, die der „Spiegel“ kurz nach der Einheit recherchiert hatte, Asahi und die Behringwerke Antikrebsmittel, die Linz AG Betablocker, Boehringer Ingelheim das gentechnisch erzeugte Interferon und Bayer Leverkusen die Medikamente Ciprobay und den Blutzucker-Senker Arcabose. Im Westen gab es nach Vorlage einiger Testberichte große Bedenken ärztlicher Experten, weil sie die Testreihen für unzureichend hielten.
Die Kliniken und wohl auch die Staatskasse der DDR erhielten für die Arzneitests in Einzelfällen bis zu 860 000 D-Mark pro Studie. Der Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski hatte nach Erkenntnissen der Stasi-Akten-Behörde Teile des Erlöses für sein „KoKo“-Imperium abgezweigt.
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„Die KoKo hat mitgefingert“, bestätigt die Behörde. Eine Sprecherin sagte der WAZ, die Beziehungen zwischen westdeutschen Wirtschaftsunternehmen und der DDR seien generell wenig aufgearbeitet. Die Behörde gehe zum Beispiel davon aus, dass 100 West-Firmen – so wie Ikea – Produkte durch DDR-Häftlinge herstellen ließen.
Das Bundesgesundheitsministerium sagt, es verfüge nicht über Unterlagen. Die DDR habe als „Drittstaat“ in eigener Verantwortung gehandelt. Auch seien Arzneimittelversuche erst seit 2004 vom Staat zu genehmigen. Über mögliche juristische Folgen der neuen Erkenntnisse könne man noch nichts sagen.
Deutsch-deutscher „Pharmastrich“
Vielleicht wird es irgendwann Anneliese Lehrer gewesen sein, die die Aufklärung eines gerne niedrig gehängten Medizin-Skandals in Gang gesetzt hat. Sie hat Journalisten des Mitteldeutschen Rundfunks, die dazu jahrelang recherchiert haben, von Krankheit und Tod ihres Mannes berichtet.
Im Mai 1989, nur Monate vor dem Mauerfall, wird der Dresdner Elektriker Gerhard Lehrer in die Klinik gebracht. Herzinfarkt. Er erhält spezielle, ihm unbekannte Medikamente. Nach der Einnahme geht es ihm schlechter. Die Ärzte fordern ihn auf, die Einnahme der Arznei in der roten Schachtel zu stoppen. Sofort. Die Pillen soll er herausgeben. Alle. Lehrer unterlässt zwar die Einnahme. Misstrauisch aber versteckt er die Packung. 1990 verstirbt er.
Nie ernsthaft behandelt
Anneliese Lehrer hat die Tabletten nach der Einheit in einem Labor untersuchen lassen. Es stellte sich heraus, dass es wirkungslose Placebos waren, die im Rahmen eines Medikamentenversuchs verabreicht wurden. Ihr wurde klar: Gerhard Lehrer ist in Dresden nie ernsthaft behandelt worden.
Lehrer war eines von vielen Versuchsobjekten auf einem deutsch-deutschen „Pharmastrich“, wie das Magazin „Der Spiegel“ den illegalen Millionenhandel schon 1991 zynisch nannte. Nach der Entdeckung weiterer zahlreicher Unterlagen des ehemaligen DDR-Gesundheitsministeriums scheint jetzt festzustehen: Westdeutsche Arzneihersteller haben zwischen 1983 und 1989 wohl in mindestens 165 Versuchsreihen mit mehreren Tausend Patienten ihre ungetesteten und im Westen ungenehmigten Produkte erprobt. Sie haben bis zu 3500 D-Mark pro Patient dafür bezahlt – Geld, das zu einem Teil in den Unterhalt der klammen DDR-Kliniken floss, zum anderen über den Devisenhändler Schalck-Golodkowski direkt in Erich Honeckers Staatskasse.
Dem finanziellen Vorteil für die DDR bei diesem Deal stand der Vorteil für die Chemie-Unternehmen im Westen gegenüber. 1978 hatte der Bonner Gesetzgeber nach der Contergan-Affäre endlich strengere Regeln für die Zulassung von Medikamenten gesetzt. Über die DDR konnte man sie gut umgehen. Die Ärzte in den dortigen Kliniken haben die für die Tests ausgesuchten Patienten in vielen Fällen wohl nicht einmal nach dem Einverständnis gefragt – ein klarer Verstoß gegen die international gültige „Deklaration von Helsinki“, die vorschreibt: „Die Teilnahme von einwilligungsfähigen Personen an der medizinischen Forschung muss freiwillig sein.“
Die Folgen sind nie aufgearbeitet worden
Wie viele Todesfälle Folge dieser eingeschränkten Sicherheitsvorkehrungen waren, ist unsicher. Sicher ist nur, dass viele Betroffene weitere teilweise schwerste gesundheitliche Probleme bekommen haben.
Zu ihnen gehört Elfriede Schneider aus Plauen. Die ältere Dame wurde 1989 ins Hospital gebracht. Die Diagnose lautet: schwere Depressionen. Sie hat damals den knappen neurologischen Bettenplatz aber nur bekommen, weil sie sich auf eine Medikamentenstudie einließ. Ihre Tochter Karin Forner hatte zugestimmt, „weil ich halt zugesagt habe in meiner Not, ohne das zu hinterfragen“, wie sie TV-Journalisten später erklärt.
Elfriede Schneider erhält das vom Schweizer Konzern Sandoz entwickelte, aber noch unerprobte Mittel Brofaromin – und büßt das zunächst mit einem rapiden körperlichen Verfall. Sie braucht sechs Wochen, bis sie sich erholt hat.