Istanbul/Kairo. Nach wochenlangen Protesten stimmen die Ägypter über die Zukunft ihres Landes ab. Vor den Wahllokalen bildeten sich am Morgen noch vor Öffnung lange Schlangen. Bedeutet das Verfassungsreferendum ein Endes des Machtkampfes zwischen Islamisten und ihren Gegnern? Oder eskaliert der Konflikt?
Eine halbe Stunde nach Öffnung der Wahllokale gibt Ägyptens Präsident Mohammed Mursi seine Stimme ab. Der Islamist nimmt nahe seines Amtssitzes am Referendum über die umstrittene neue Verfassung teil. Im Kairoer Stadtteil Heliopolis mit seinen Villen und Regierungsbauten hat auch der vor knapp zwei Jahren gestürzte Langzeitpräsident Husni Mubarak schon gewählt. Mursi ist optimistisch. Er setzt darauf, dass die meisten Ägypter für die neue Verfassung stimmen, die den wichtigen Religionsgelehrten des Landes künftig mehr Macht gibt.
Mehrere Kilometer weiter im Stadtteil Abbassija, wo die koptisch-orthodoxe Kirche ihren Hauptsitz hat, tritt am Vormittag Papst Tawadros II. an die Wahlurne. Die christliche Minderheit sieht sich durch den Verfassungsentwurf, der überwiegend von Islamisten erarbeitet wurde, massiv bedroht. Trotzdem machte der Koptenpapst seiner Gemeinde keine Vorgaben zur Abstimmung. Nur teilnehmen am Referendum sollten seine Schäfchen unbedingt.
Neue Runde im Machtkampf zwischen den Islamisten und ihren Gegnern
Die Abstimmung über das im Eiltempo von Muslimbrüdern und ultrakonservativen Salafisten durchgeboxte Regelwerk ist eine neue Runde im Machtkampf zwischen den Islamisten und ihren Gegnern: Christen, Linke und Liberale. Zehn Provinzen haben nun mit der Stimmabgabe begonnen, unter ihnen Kairo und Alexandria. Am 22. Dezember sollen die restlichen 17 Provinzen nachziehen. Insgesamt sind 51 Millionen stimmberechtigte Ägypter registriert.
Es geht um die Zukunft des Landes. Und die Vorstellung, wie diese genau aussehen soll, entzweit die Ägypter. In den vergangenen Wochen gab es deswegen Massendemonstrationen, Krawalle und Tote. Die Opposition hatte für eine Überarbeitung des Verfassungsentwurfs gekämpft. Sie befürchtet, dass künftig das islamische Recht, die Scharia, in alle Lebensbereiche wirkt und die Gelehrten des einflussreichen Al-Azhar-Islam-Instituts zu einer vierten Macht werden. Mehr Scharia und weniger Staat wünschen sich wiederum viele Anhänger Mursis.
Lange Warteschlangen
Am Samstag blieb es in den Wahllokalen und in der Umgebung weitgehend ruhig. Es bildeten sich in Kairo und anderen Städten aber lange Warteschlangen. Wähler berichteten, dass sie stundenlang anstehen mussten. Wie so oft bei Abstimmungen in Ägypten gab es auch diesmal Verstöße gegen das Wahlrecht: In einigen Städten öffneten die Lokale später, in anderen versuchten Bärtige, Wähler zu beeinflussen. In der Arbeiterstadt Mahalla - die in den vergangenen Wochen massiv gegen Mursi protestierte - schoss ein Mann in der Nähe einer wartenden Menschenmenge in die Luft.
Wie diese Abstimmung ausgeht, wird sich in gut einer Woche zeigen. Viele Menschen denken aber so wie Mustafa Ahmed, der im Kairoer Stadtteil Sajjida Seinab seine Stimme abgibt. "Ich will Stabilität und Wohlstand", sagt der 40-Jährige. "Und die neue Verfassung wird das garantieren."
Naier el-Gindi wählt in Garden City und ist anderer Meinung. "Mursi will mein Leben und meine Familie kontrollieren. Ich ziehe Freiheit der Kontrolle vor." Ob die Abstimmung die aktuelle Krise beenden wird, ist unsicher. Denn gibt es nur eine knappe Mehrheit für oder gegen die Verfassung, könnte der Konflikt erneut eskalieren - und die Angst vor einem Bürgerkrieg wieder wachsen lassen. (dpa)