Essen. Die Verwerfungen und Milliardenverluste bei ThyssenKrupp sind nicht nur mit dem Versagen Einzelner zu erklären. Sie hängen auch mit der Mentalität einer Traditionsbranche zusammen, in der Korps-Geist, Hierarchiegläubigkeit und Machtrituale eine große Rolle spielen.
Wie konnte es passieren, dass ThyssenKrupp ein neues Stahlwerk buchstäblich in den brasilianischen Sumpf setzte? Warum unterlief dieser milliardenteure Fehler einem Unternehmen, das immerhin mehr als 200 Jahre Industrieerfahrung und deutsche Qualitätsproduktion in seinem kollektiven Gedächtnis vereinigt und darauf stolz ist?
Wieso glaubte ThyssenKrupp, in Zeiten einer genau hinsehenden Öffentlichkeit mit Methoden von gestern, nämlich der Kartellabsprache, über die Runden zu kommen? Weshalb schließlich verliert ausgerechnet jener Vorstand die Bodenhaftung und das Gespür für das richtige Maß, der für die Einhaltung redlicher Geschäftsprinzipien zuständig war?
Große Zeit der Ruhrindustrie
Fragen über Fragen, und die Antworten sind nicht so einfach, wie es die Suche nach Schuldigen und deren bundesweite mediale Verurteilung erscheinen lassen. Es liegt nahe zu vermuten, dass all die haarsträubenden Fehler und Verfehlungen nicht nur auf individuelles Versagen zurückzuführen sind, sondern mit einer speziellen Firmenkultur zusammenhängen, die ihrerseits eingebettet ist in eine spezielle regionale Kultur.
Wir heimatverbundenen Ruhrgebietler haben uns angewöhnt, die große Zeit der Ruhrindustrie zu idealisieren. Bewegt stehen wir vor den einschüchternden baulichen Relikten dieser Ära, und noch heute kann ein Blick vom Alsumer Berg in Duisburg auf die dröhnende und rauchende Hochofen-Kulisse des gewaltigen ThyssenKrupp-Hüttenwerks tief beeindrucken. Nur sehr nüchternen Naturen läuft hier kein Schauer über den Rücken.
Ausschließlich Männer
Doch die Dinge haben eine Kehr- und Schattenseite. Denn die Grandiosität der Montanindustrie hat auch die Männer geprägt – und es waren tatsächlich ausschließlich Männer -, die diese riesige Maschine befehligen. Sie prägte den Mann am Hochofen, dessen harter Arbeiter- und Männerstolz so in keiner anderen Branche zu finden ist. Sie prägte auch die Lenker des Ganzen, die Eigentümer, Vorstände, Direktoren.
Die Welt des Stahls war eine Welt der Größe und der Macht, der Härte wie der Sentimentalität, vor allem auch des Anbetens der Tradition – nicht selten gegen die ökonomische Vernunft. Das war bei Thyssen so, aber noch viel mehr bei Krupp. Krupp war zwar das deutlich kleinere der beiden fusionierten Unternehmen, hat aber die deutlich größeren Anteile in die gemeinsame Führungskultur eingebracht.
Augen zu und durch
Nun ist Tradition zunächst nichts Schlechtes. Das Gefühl, ein Werk vieler Generationen fortzusetzen, kann Identität schaffen und Kräfte freisetzen. Schwierig wird es, wenn Traditionsbewusstsein kippt zu einer Kultur der Beharrung und des Korps-Geistes, der sich selbst genug ist, wenn verknöcherte Hierarchien Offenheit verhindern und ein Denken wie auf Schienen befördern: Ein Mann, ein Wort. Augen zu und durch, bloß kein Wackeln, bloß kein Zweifeln, das als Schwäche ausgelegt werden könnte. Ein Stahlwerk sollte gebaut werden, und also wurde es gebaut, und irgendwann gerieten die Dinge außer Kontrolle.
Zugegeben, unflexibles Denken ist eine allen Großstrukturen innewohnende Gefahr, doch bei ThyssenKrupp war sie vermutlich besonders ausgeprägt. Vorstandschef Heinrich Hiesinger mag dies ähnlich sehen, wenn er beklagt, seine Manager würden zu viel Routinearbeiten erledigen und zu wenig nachdenken.
Old-Boys-Netzwerke: Geselligkeit und Trinkfestigkeit als Wert an sich
Eine weitere Gefahr der Tradition sind die Old-Boys-Netzwerke. Die Stahlindustrie war immer eine Welt, in der Geselligkeit und Trinkfestigkeit Werte an sich waren, in der Aufsteigernaturen und solche mit Hang zum Protz gerne zeigten, wie weit sie es gebracht hatten. Ein ihnen ergebener, sie stets umschwirrender Kreis persönlicher Mitarbeiter und die nahezu unbegrenzte Höhe der Spesenberechtigung dienten dabei als Insignien der Macht.
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Von dieser sehr speziellen Kameraderie war es dann oft nur noch ein kleiner Schritt bis zur nackten Korruption, was allerdings bis vor wenigen Jahren kaum jemanden interessierte. Es dürfte aber klar sein, dass diese Mentalität nicht einfach verschwindet, nur weil es da plötzlich so etwas Neumodisches gibt wie „Compliance“. Die Forderung, Regeln strikt einzuhalten, war und ist wohl noch immer für manchen alten Hasen ein belächelter Spleen aus dem BWL-Seminar, nichts für die harte Welt da draußen.
Die Krupp-Kultur hat dabei natürlich zwei Seiten. Es kann gut gehen, wie in jener berühmten Szene, als Berthold Beitz auf dem Höhepunkt der Finanzkrise die leitenden Herren beim schon geplanten Personalabbau einbremste und mit den legendären Worten „So machen wir das!“ den Vorstellungen des Betriebsrats den Vorzug gab. Beitz lag mit seinem legendären Bauchgefühl vermutlich richtig, und ein sorgenvolles Grummeln soll es auf dem Hügel auch vor Beginn des Brasilien-Abenteuers gegeben haben.
Herkömmliche Methoden
Bei allen Verdiensten, die unbestritten sind, findet es mancher aber auch irritierend, dass das Wohl und Wehe eines Weltkonzerns von einem Mann abhängt, der im vergangenen September 99 geworden ist. Beitz imprägniert ThyssenKrupp zwar durch seinen Mythos, durch eine Lebensleistung, die seinesgleichen sucht, aber auch hier gibt es eine Kehrseite.
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Der Wirtschaftspublizist Heiner Radzio, der die Ruhrindustrie kannte wie kein zweiter und der zeitlebens Beitz‘ Managerqualitäten kritisch sah, formulierte es im Handelsblatt vor Jahrzehnten einmal so: „Von allen großen Traditionskonzernen war Krupp am tiefsten und längsten in dem Bewusstsein befangen, neue Probleme mit den herkömmlichen Methoden zu lösen.“ In diesen Tagen wirkt so ein Satz wieder seltsam aktuell.
Ein paar Probleme weniger
Das Ruhrgebiet indes liebt solche „herkömmlichen Methoden“, die Region ist ganz bei sich, wenn es möglichst harmonisch und korporatistisch zugeht, wenn sich wenig verändert und jeder weiß, wo er hingehört. Ohne die Kultur der großen Montanunternehmen wäre das Ruhrgebiet im Positiven nicht das, was es ist, aber es hätte auch ein paar Probleme weniger, wäre flexibler, dynamischer, rascher dem Neuen zugewandt, weniger hierarchie- und staatsgläubig.
Vorstandschef Heinrich Hiesinger will nun vieles ändern in dem Konzern, in dem alle Stahlunternehmen des Ruhrgebiets aufgingen und der mit der Stiftung einen Mehrheitsaktionär hat, der sich als Fels in der Brandung versteht. Es wird interessant sein zu sehen, wie weit er damit in diesem Umfeld kommt.