Essen. . Wo ein Grüner gewählt wird, ist die Welt heil. Die Unterstützer von Fritz Kuhn und Winfried Kretschmann sind weltoffen, gebildet, gut situiert. Nicht nur im Ländle breitet sich diese Schicht aus – auch in Berlin-Prenzlauer Berg, in Münster oder in Essen-Rüttenscheid lebt es sich grün-konservativ.

Wenn ein Grüner gewählt wird, dann geht es seinen Anhängern gut. Sie stehen im Job, verdienen ordentlich, im Hof der sanierten Altbauwohnung steht das Fahrrad für die täglichen Wege. Haben sie Kinder, schaffen diese es auf das Gymnasium. Man könnte auch sagen: Wo ein Grüner gewählt wird, ist die Welt heil. Und wo die Welt heil ist, liegt Baden-Württemberg.

Dort stellen die Grünen mit Winfried Kretschmann den Landeschef, dort regieren grüne Oberbürgermeister die Städte Tübingen und Freiburg. Und nun hat mit Fritz Kuhn am vergangenen Sonntag ein Grüner die Landeshauptstadt Stuttgart erobert.

Gebildet und weltoffen

Die heile bürgerliche Welt: Die verkörperte in den Nachkriegsjahrzehnten immer die CDU. Anti-AKW-Bewegung, freie Liebe, Ostermärsche, Tempo 100 – diese Begriffe deckten sich jahrzehntelang mit Grün/Alternativ. Doch nun lächeln Winfried Kretschmann und Fritz Kuhn mit gut sitzenden Anzügen in die Kameras und erklären im Bild-Interview: „Wir waren immer konservativ.“

Offenbar treffen die Grünen dort den richtigen Nerv, wo eine gut situierte, gebildete und weltoffene Schicht beheimatet ist. Im vom Mittelstand, Beamten und Studenten geprägten Südwesten Deutschlands ist diese Schicht tatsächlich ein dominierender Teil der Bevölkerung.

Das sollte kein Grund für Union und SPD sein, sich mit dem Hinweis auf die besonderen Verhältnisse in Baden-Württemberg herauszureden. Denn diese Mittelschicht breitet sich überall in deutschen Städten und Stadtbezirken aus. „Das Stadtleben ist inzwischen attraktiver als das Umland“, sagt Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Demografie.

Latte-Macchiato-Mütter, Alt-68er und andere Gutmenschen

Berlin, Prenzlauer Berg. Hier sind sie zu Hause, die „Latte-Macchiato-Mütter“, die teure Kinderwagen schieben, die „Tiger-Mütter“, die zwischen Karriere und Feierabend die sportlich-musische Spitzenleistung der Kinder managen. Die Kreativen der Medienwelt, die Lehrer, Ärzte, Studenten, die Alt-68-er-Professoren, die sich nach dem Marsch durch die Institutionen in den Ruhestand verabschieden, die Patchwork-Familien und Homo-Ehen. Gutmenschentum und soziales Engagement sei durchaus vorhanden, sagt der Münsteraner Politologe Norbert Kersting. Doch die Frage der sozialen Gerechtigkeit – dem Kernthema der Sozialdemokraten, scheine Teilen dieser Bürgerschaft nicht so wichtig zu sein – schließlich sei der eigene Wohlstand ja gesichert.

Ähnliche Phänomene gibt es in Hamburg, Köln oder München. Münster hat die „Urbanisierung der neuen Mittelschicht“ (Norbert Kersting) vollständig erfasst, und auch vor dem Ruhrgebiet macht die Entwicklung nicht halt.

Beispiel Essen-Rüttenscheid. 20 Prozent holten die Grünen dort bei der letzten Landtagswahl – mehr als die CDU. Ähnliches gilt für das Dortmunder Kreuzviertel. Wo die städtische Mittelschicht wohnt, ist die Innenstadt nah, sind die Wohnungen teuer, die Schulen besser als anderswo. Dafür sind die Wege kurz zu Bioläden, schicken Restaurants und Designer-Läden.

Den etablierten Parteien fehlt eine Antwort

Weder CDU noch die SPD, auch nicht die FDP haben auf dieses von Individualität geprägte Lebensgefühl eine Antwort. Noch bleiben die Parteien gelassen; die SPD, weil sie sich immer noch auf die Solidarität der „Kleinen Leute“ in den Ballungsgebieten und Arbeiterstädten verlässt, die CDU, weil sie glaubt, dass die alten Familienstrukturen auf dem Land immer noch ausgeprägt genug sind, um als Volkspartei bestehen zu können. Zwar gibt es in beiden Parteien Bestrebungen, diese Mittelschicht einzufangen, doch zerlegt sich vor allem die schwarz-gelbe Koalition bei den für die neuen Konservativen entscheidenden familienpolitischen Themen wie Frauenquote, Betreuungsgeld, Kita-Ausbau oder Homo-Ehe.

Sich auf die Landbevölkerung zu verlassen, ist für den Politologen Norbert Kersting obendrein ein Trugschluss. Die Verstädterung schreite in Deutschland besonders rasant voran, gleichzeitig verlören selbst auf dem Land die klassischen Familienstrukturen an Bedeutung, weil – wie im traditionsbewussten Sauerland – junge Menschen aus Mangel an Perspektiven und Infrastruktur wegziehen.

Wenn Menschen ihre Heimat verlassen, gehen auch Bindungen verloren: zum Verein, zur Verwandtschaft – und zu den Parteien. Union und Sozialdemokraten, so Kersting, schafften es nicht mehr, die Menschen zu mobilisieren. Die Folge: die Wahlbeteiligung sinkt bei den Volksparteien. Anders die Grünen: Ihre Anhänger gehen wählen – auch das erklärt, warum Stuttgart an Fritz Kuhn ging statt an den parteilosen Herausforderer, der von der CDU unterstützt wurde: Nur 47 Prozent machten überhaupt von ihrem Wahlrecht Gebrauch.