Berlin. . Der Historiker Hans-Peter Schwarz beschreibt in seinem Buch „Helmut Kohl – eine politische Biographie“ viele bisher unbekannte Facetten des Altkanzlers. Die Vorstellung des 1000 Seiten starken Werkes in Berlin fesselte die Zuhörer.

Hans-Peter Schwarz lässt sich Zeit, zehn grüblerische Sekunden, er sammelt sich für seine Antwort. Eine halbe Stunde diskutiert der Historiker bereits über Helmut Kohl, nun stellt sich eine zentrale Frage über den Mann, der als „Kanzler der Einheit“ Geschichte schrieb. WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz referiert, dass Kohl sich Ende der 80er-Jahre mit der DDR als zweitem deutschen Staat abgefunden habe. Ob es daran gelegen hat, dass der Kanzler nicht national orientiert war, sondern europäisch?

„Das war eine der Fragen, die mich beschäftigt haben“ – damals, vor fünf Jahren, als Schwarz Kohls Biografie in Angriff nahm. An zwei Stellen belegt der 78 Jahre alte Historiker, dass der Kanzler die Teilung akzeptiert hatte. Als es im Herbst 1989 aber so weit war, fackelte Kohl nicht lange. „Das passt für mich im Grunde nicht hinein in die Psychologie dieses Mannes“, meint Schwarz. Kohl war oft einer, der Probleme aussaß. Den Ruck, den er sich 1989 gab, erklärt Schwarz mit den absehbaren Wahlen und der emotionalen Wucht: Wo immer er in den neuen Ländern auftrat, wurde der Mann wie ein „Heilsbringer“ verehrt. Das hat Kräfte freigesetzt. Wie Doping.

Vor 30 Jahren wurde Helmut Kohl zum Kanzler gewählt

Im noblen Friedrichssaal der Deutschen Bank, unter den Linden, feinste Berliner Adresse, verfolgen 200 Zuschauer das Gespräch, zwei Stunden lang, nicht eine Sekunde zu viel. Schwarz steht im Mittelpunkt, ein Adenauer-Kenner, ein Berufener, um den selbsternannten Enkel des „Alten“ zu erklären.

Bernhard Vogel, ein alter CDU-Kämpe auch er, wiederum kennt Kohl seit dem Studium in Heidelberg. Er steht heute der Konrad-Adenauer-Stiftung vor. Er gibt gerade den Zeremonienmeister der Festspiele zum 30-jährigen Jubiläum von Kohls erster Kanzlerwahl am 1. Oktober 1982. Schließlich Ulrich Reitz, ein journalistischer Zeitzeuge. Und Autor einer Biografie über Wolfgang Schäuble, erst Kohls Kronprinz, dann: vertrauter Feind, blind vor Ehrgeiz – so sieht es Schwarz. Nachfragen lässt der Historiker an sich abtropfen: Er habe nichts hinzuzufügen. Urteile, in wenige Worte gemeißelt.

Kohl war mitnichten ein "Pfälzer Landei"

Das „Millenniumsdesaster“, wie Schwarz Kohls Spendenaffäre nennt, kommt nur kurz zur Sprache, ebenso der Selbstmord von Kohls Ehefrau Hannelore. Andere Erinnerungen werden wach, an Kohls Bonner Jahre, als „Birne“ verspottet, eine „Riesen-Schildkröte“ (SPD-Mann Peter Glotz), die sich nicht umwerfen ließ.

Über Kohl muss der Autor Schwarz einiges gerade rücken. Ein Pfälzer Landei? In Wahrheit prägte ihn die Industriestadt Ludwigshafen. Ein Konservativer? Papperlapapp. In jungen Jahren zählte er zu den fortschrittlichen Kräften seiner Partei. Später als Kanzler konnte er mit dem „Thatcherismus“ nichts anfangen. Vogel: „Er hatte eine soziale Ader.“

80 Jahre Helmut Kohl

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    40 Interviews hat Schwarz geführt, viele Dokumente studiert. Er fördert einiges zu Tage, das man in Kohls Memoiren nicht finden wird. Die seien langatmig und weitschweifig findet Schwarz, „bis in die Randzonen der Selbstgerechtigkeit“. So ganz anders als „die Geschichtsstunde“ (Reitz) an diesem Abend. Man erfährt, dass der Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vom CDU-Rechtsexperten Rupert Scholz stammt. Bestenfalls geahnt hat man, dass der Euro eine Erfindung des französischen Präsidenten Francois Mitterrand war.

    Die Angst des Kanzlers vorm Euro

    „Kohl hat sich lange gesträubt“, so Schwarz. Er wusste um die Risiken, aber versuchte erst gar nicht, mit einem Fiskalpakt die Währung krisenfest zu machen, „Ich habe es bei Kohl oft erlebt“, entschlüpft es Vogel, wie er ein weit entferntes Ziel setzte „und es uns überließ, wie wir es erreichen“.

    Genau das könnte Kohl zum Verhängnis werden. Schwarz macht einen Vorbehalt: Scheitert der Euro, werde Kohl zur „tragischen Größe“.

    Das Buch „Helmut Kohl – Eine politische Biographie“ von Professor Hans-Peter Schwarz kommt am Montag in den Handel. Der gut tausend Seiten starke Band erscheint im Verlag DVA und kostet ca. 35 Euro.