Dortmund/Wuppertal. . Fliegende Kameras, automatisch ausgelöste Polizeieinsätze: Die EU testet, was möglich ist, wenn der Überwachung keine Grenzen gesetzt sind. Datenschützer sind schon zu Beginn des Projekts entsetzt: Was die EU da ausprobiere, sei “ohne Maß und Ziel“.
Seit Mittwoch werden Autofahrer bei der Einreise in die Niederlande automatisch fotografiert, Kameras erfassen Kennzeichen, Automarke und Insassen. Das Ziel: Ermittlung gestohlener Fahrzeuge und Bekämpfung von Drogen- und Menschenschmuggel. EU-Pläne sehen deutlich weitergehende Maßnahmen vor: Mit dem Programm INDECT soll die Überwachung von Plätzen, Flughäfen und Bahnhöfen sichergestellt werden. Fallen dabei Personen mit „abnormalem Verhalten“ auf, folgen automatisch Polizeiaktionen. Dazu gehört auch der Einsatz fliegender Kameras in Städten. Kritiker befürchten die umfassendste Überwachung aller Zeiten und Kontrolle ohne Maß und Ziel.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit forscht derzeit ein Konsortium aus Firmen und Universitäten in Europa an INDECT, das die EU maßgeblich mit rund elf Millionen Euro finanziert. Beteiligt ist auch die Uni Wuppertal. Die Vielzahl der Bilder, die schon jetzt Überwachungskameras liefern, sei durch Menschen kaum noch auswertbar, begründen die Entwickler die Notwendigkeit neuer Werkzeuge. Künftig soll das eine Computersoftware übernehmen. „INDECT hätte geholfen, die Massenpanik bei der Loveparade in Duisburg zu verhindern“, behauptet eine Sprecherin des EU-Vizepräsidenten Antonio Tajani, in dessen Zuständigkeit die Projektförderung fällt.
Unterlagen des Konsortiums, die der WAZ Mediengruppe vorliegen, belegen, dass bei der Entwicklung aber ganz andere Schwerpunkte gesetzt werden. Das System soll auf Videobildern automatisch „abnormales Verhalten“ erkennen, verdächtige Personen identifizieren, im Internet nach Informationen über die Person suchen, ihre Gefährlichkeit abschätzen und Polizeiaktionen auslösen. Was genau „abnormales“ Verhalten ist, werde die Polizei entscheiden, heißt es bei INDECT. Zu langes Herumsitzen, im Kreis gehen oder ein bestimmter Gang, der auf das Tragen von Waffen hinweist, könnten Merkmale sein.
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Was sich anhört wie ein Science-Fiction-Thriller, wird bei INDECT für die Praxis geplant. So macht man sich bereits Gedanken, ob das System nur an Polizei oder auch an Private verkauft werden kann.
„INDECT bereitet mir Sorge“, sagt NRW-Justizminister Thomas Kutschaty der WAZ Mediengruppe. „Der Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung wird auf den Kopf gestellt.“ Jeder Bürger, der bei INDECT auffällt, werde als potenzieller Straftäter angesehen.
Indect - ein Fall für den Big Brother Award?
Das Studentenparlament der Uni Wuppertal war entsetzt – und schlug ein Forschungsvorhaben, an dem ihre eigene Hochschule beteiligt ist, für den „Big Brother Award“ vor: INDECT heißt das Programm, und nicht nur in Wuppertal wird emsig daran gearbeitet.
Wer ist an INDECT beteiligt?
Mit 10,9 Millionen Euro fördert die EU die Entwicklung der automatisierten Gefahrenerkennung namens „INDECT“. Unter Leitung der TU Krakau sind weitere europäische Universitäten und Sicherheitsfirmen Projektpartner, zwei Firmen davon aus Deutschland. 706.000 Euro der Fördersumme gehen an die Wuppertaler Universität. Dort forscht ein Team um Prof. Anton Kummert u.a. an der Auswertung von Videobildern.
Was soll das Programm leisten?
Die Software der Wuppertaler Uni soll aus Videoaufnahmen analysieren, wie schnell sich Personen und Fahrzeuge bewegen. Als Beispiel für die Analyse von Gefahrenbereichen nennt die Uni das „Befahren einer Einbahnstraße entgegen der vorgeschriebenen Richtung“ und das Erkennen von Stausituationen auf Autobahnen.
Das klingt doch harmlos und sinnvoll, oder?
Soweit sicherlich. Allerdings ist davon in der eigenen Darstellung des Projekt-Konsortiums eher weniger die Rede. Terrorismusbekämpfung, Aufspüren und Verfolgung von Hackern, Kriminellen und Pädophilen werden in Unterlagen, die unserer Zeitung vorliegen, explizit als Einsatzgebiet benannt.
Und wie funktioniert die automatische Überwachung?
Videos, beispielsweise von öffentlichen Plätzen, Flughäfen oder Bahnhöfen, werden analysiert auf „unnormales“ Verhalten von Personen. Fällt dem System eine Person auf, soll diese über biometrische Merkmale (also z.B. Gesicht, Gang etc.) identifiziert werden. Automatische Gesichtserkennung besitzt heute schon „Facebook“.
Nutzt das System auch Informationen aus dem Internet?
Ja. Eine speziell entwickelte Suchmaschine soll auf Webseiten Informationen zur suspekten Person zusammentragen. In älteren Beschreibungen von INDECT wird eine Suche nicht nur in Polizeidatenbanken, sondern auch auf Webseiten und sozialen Netzwerken genannt. In jüngeren Verlautbarungen betont das Konsortium, keine nicht-öffentlichen Webseiten zu besuchen, auch nicht z.B. in Facebook. Einschränkung: Diese Rücksichtnahme gelte „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“.
Ist das alles denn erlaubt?
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INDECT betont, sich an alle Gesetze zu halten; der Einsatz müsse auch künftig dem Recht der jeweiligen Staaten angepasst sein. Aber, so betont man: man müsse in der Forschung doch Ideen entwickeln können, auch wenn die gesetzliche Grundlage dafür „jetzt noch nicht“ vorhanden sei.
Was sagen Kritiker dazu?
Wenn man wisse, dass sogenanntes „abnormales Verhalten“ verdächtig sei, würde das schon dazu führen, dass man sich nicht mehr frei bewegen kann oder z.B. ganz entspannt irgendwo sitzen könne, kritisieren Gegner wie Igor Ryvkin aus Dortmund, der vergangenes Wochenende eine Demo gegen INDECT leitete. Die südwestfälische SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel beklagt, „dass die EU-Kommission auf Anfragen aus dem Parlament bislang keine klare Aussage gemacht hat, ob und wieweit das System zum Einsatz kommen soll.“
Wann wird INDECT umgesetzt?
Das Forschungsvorhaben läuft am 31. Januar 2013 aus – bis dahin sollen Ergebnisse vorliegen. Ob das System dann schon einsatzbereit ist, ob schon Staaten Interesse bekundet haben – darauf gab es bis Redaktionsschluss keine Antwort des Konsortiums.