Kairo/Tripolis. Während Syrien im Bürgerkrieg versinkt, hat Libyen diesen nationalen Alptraum nun seit neun Monaten hinter sich. Das Land hat trotz der inneren Spannungen nicht den Weg in einen islamistischen Staat gewählt. Eine Analyse.
Mittlerweile macht das ölreiche, nordafrikanische Land sogar wieder durch positive Nachrichten von sich reden. Der ersten freien Wahl in seiner Geschichte stellten die ausländischen Beobachter ein nahezu makelloses Zeugnis aus. Alle Bürger konnten ungehindert ihre Stimme abgeben.
Bewaffnete Zwischenfälle blieben vereinzelt, stattdessen feierten die Menschen in der Nacht danach mit Feuerwerk und Hupkonzerten ihre neue Freiheit.
Und anders als bei den revolutionären Nachbarn Tunesien und Ägypten hoben sie nicht die Muslimbrüder im Triumph auf den Schild und schoben gleichzeitig die säkularen Kräfte mit mageren Prozentzahlen an die Seite. Im Gegenteil – gerade in den Metropolen Tripolis und Benghazi dominierte überraschend klar eine säkulare Allianz, während die Islamisten weit abgeschlagen ins Ziel kamen und nun bestenfalls als Juniorpartner an der Macht teilhaben können.
Islamistische Partei ging leer aus
Die schillernde islamistische Partei des ehemaligen Afghanistan-Gotteskämpfers und Rebellenkommandeurs von Tripolis, Abdul Hakim Belhaj, ging trotz ihres Wahlkampftrubels sogar gänzlich leer aus. Zwei Drittel der 200 Mandate dagegen fielen an Einzelpersonen und Miniparteien, die entschlossen sind, sich nicht vereinnahmen zu lassen und sich jenseits der beiden politischen Lager als unabhängige Kraft zu etablieren.
Damit hat Libyen trotz aller inneren Spannungen nicht die Teilung und nicht den Weg in einen islamistischen Staat gewählt. Die geringe Resonanz der Muslimbruderschaft hat zwei Gründe. Hoffnungslos arme Schichten wie in Tunesien und Ägypten gibt es unter Libyens sechs Millionen Einwohnern nicht. Muammar Gaddafi vernachlässigte bestimmte Regionen seines Imperiums – im Osten und im Süden. Insgesamt jedoch bescherte der Ölreichtum trotz der Verschwendungen allen Libyern ein Auskommen ohne soziale Not.
42 Jahre Unterdrückung
Gleichzeitig war der libysche Despot in den 42 Jahren seiner Macht über Jahrzehnte ein vom Westen verfemter Zeitgenosse. „Bruder Führer“ galt auf internationalem Parkett und in der arabischen Welt als eine bizarre Kategorie für sich – eine Mischung aus sozialistischem Grünbuch-Prediger, Schutzpatron aller Terrorgruppen sowie egozentrischer Selbstdarsteller mit Beduinenzelt. Entsprechend wurde seine Tyrannei vom eigenen Volk nie wahrgenommen als ein säkulares Machtsystem, bei dem der Westen als heimlicher Komplize bei der Unterdrückung mitmischt.
Libyens Entscheidung für eine säkulare Zukunft ist ein Meilenstein. Trotzdem bleibt der Zusammenhalt des riesigen Landes fragil. Staatliche Institutionen, die als Klammer dienen könnten, wurden unter Gaddafi nie entwickelt. Die Armee ist nur ein Schatten ihrer selbst, die Polizei muss neu aufgebaut werden. 5000 wirkliche und vermeintliche Gaddafi-Täter werden nach wie vor in Lagern gefangen gehalten. Viele haben Blut an den Händen, eine funktionsfähige Justiz, die ihnen den Prozess machen könnte, gibt es nicht.
Schwierige Zukunft
Auch in den Seelen der Menschen hat die Gaddafi-Zeit tiefe Narben hinterlassen, zahllose Rechnungen aus den neun Monaten Bürgerkrieg sind offen. Dem Land und seinen Bürgern stehen auf ihrem Weg in eine offene Gesellschaft noch schwierige Jahre bevor. Doch Libyen hat gute Chancen, seine Zukunft zu meistern.