Kairo/Tripolis. . Mit dem „Tag des Zorns“ begann vor einem Jahr die Revolution. Doch Ruhe und Zuversicht sind nicht eingekehrt. Und die alten Praktiken leben einfach weiter“, klagt ein Geschäftsmann.
Abdallah Elsabri sitzt wieder am Schreibtisch in der Bank. Auf seinem Laptop jedoch hütet der 54-Jährige immer noch die Bilder von den ersten Revolutionstagen in Bengasi. „Ich habe niemals in meinem Leben eine Waffe angerührt, aber ich wollte irgendetwas tun“, sagt er.
Den verwackelten Videofilm hat der schmächtige Mann damals unter Lebensgefahr gedreht vor den Toren der berüchtigten Katiba, dem Kasernengelände von Gaddafis Eliteeinheiten in der Innenstadt. Sein jüngster Sohn saß am Steuer des Familien-Toyota. Der Vater filmte durch die offene Scheibe. Schüsse knattern, Autos hupen, Demonstranten rennen in Panik davon, der Himmel ist grau verhangen, der Asphalt regennass. Zwei junge Männer versuchen vor den herausstürmenden Gaddafi-Soldaten zu fliehen, einer rutscht auf dem feuchten Rasen aus. Der Soldat hält das Gewehr auf ihn herunter und schießt. Ein zweiter mit rotem Barett trampelt auf den Regungslosen ein und knallt ihn dann aus nächster Nähe mit der Pistole ab – begleitet von ohnmächtigem Wutgeheul der jungen Mit-Demonstranten, die hinter Palmen und Straßenlaternen in Deckung kauern. „Er hat ihn erschossen“, schreit einer in die Kamera. Hilflos deutet er auf die gerade von Abdallah Elsabri dokumentierte Mordszene, einen Stein noch in der Hand.
Was die Entsetzten damals nicht ahnen konnten, ihrem ersten „Tag des Zorns“ am 17. Februar 2011 folgten am Ende acht Monate Bürgerkrieg mit mindestens 30 000 Toten und vielen zehntausend Verletzten. Inzwischen haben die Rebellen überall gesiegt, Ruhe jedoch ist genauso wenig eingekehrt wie eine breite Zuversicht in der Bevölkerung auf eine bessere Zukunft. Städte wie Misrata und Gaddafis Geburtsort Sirte liegen in Trümmern. Schul- und Gesundheitswesen sind in einem erbärmlichen Zustand. Die Polizei funktioniert nicht, ein Justizsystem gibt es nicht. „Dieselben korrupten Typen sind immer noch da, es gibt keine Justiz und keine Aufsicht. Und die alten Praktiken leben einfach weiter“, klagte kürzlich ein Geschäftsmann. Die Wirtschaft funktioniere genauso schlecht, wie vor dem Sturz des Regimes – und es könne noch viel schlechter werden.
12 Menschen zu Tode gequält
Viele Großprojekte liegen nach wie vor auf Eis. Bis zu den Parlamentswahlen Anfang Juni will der Nationale Übergangsrat (NTC) keine neuen Verträge unterzeichnen, um nicht „sofort eine Welle von Korruption auszulösen“, wie Übergangspräsident Mustafa Abdul Jalil in einem Interview einräumte.
So klettert die Arbeitslosigkeit weiter, die schon vor der Revolution bei über 25 Prozent lag. Viele junge Leute bleiben bei ihren Milizbrigaden, um etwas zu tun zu haben. In den meisten Regionen sind deren Kommandeure die eigentlichen Machthaber, deren Untaten Einheit und Stabilität des Landes bedrohen. Tausende haben sie seit dem Sturz Gaddafis auf eigene Rechnung verhaften lassen. Laut Amnesty International wird in ihren Lagern systematisch gefoltert, mindestens 12 Menschen seien zu Tode gequält worden. Dem Nationalen Übergangsrat (NTC) bescheinigt Amnesty, ihm fehle „der Wille, die wirkliche Dimensionen des Problems ins Auge zu fassen“.
1600 Dollar pro Familie
Die Milizen dagegen geben sich ungerührt. Am Dienstag paradierten sie in hunderten Jeeps mit aufgepflanzten Maschinengewehren und Panzerabwehrraketen durch Tripolis und hielten die Bewohner mit demonstrativen Gewehrsalven in Atem. Gleichzeitig kündigten ihre Kommandeure an, sich zu einem gemeinsamen Militärrat zusammenzuschließen. Ihr ziviler Gegenspieler, der Nationale Übergangsrat, dagegen plant für Freitag keine eigene, nationale Feier. Er ließ bekannt geben, man werde zum Jahrestag jeder Familie 1600 Dollar aus der Staatskasse auszahlen, Alleinstehenden 160 Dollar. „Das libysche Volk ist durch wirklich harte Zeiten gegangen“, begründete NTC-Sprecher Mohammed al-Hareizi.