Brüssel. Erst wollte er nicht weitermachen, jetzt tut er es doch: Jean-Claude Juncker bleibt Chef der Eurogruppe. Der luxemburgische Regierungschef bekleidet das Amt bereits seit 2005 – und jetzt erstmal für ein weiteres halbes Jahr.
Auf dem Gipfel Ende Juni hatte er noch einmal wütend auf die Pauke gehauen. Auf keinen Fall werde er einfach so weitermachen, das hätten sie vielleicht gerne, die Euro-Partner, aber nicht mit ihm, nicht mit Jean-Claude Juncker! „Ich lasse mich nicht aufs Eis führen“, blaffte der Eurogruppen-Chef. „Ich bin nicht blöder als die anderen!“
Einstimmig sei er auf dem Brüsseler Krisengipfel gebeten worden, sein Amt sechs Monate weiterzuführen. Dem wollte Juncker aber nur zustimmen, wenn dafür der luxemburgische Notenbankchef Yves Mersch ins Direktorium der Europäischen Zentralbank einzieht. Diese Bedingung wurde nun erfüllt - und Juncker macht weiter. Zumindest ein halbes Jahr. Und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble kommt nicht zum Zuge - weil Frankreichs Staatschef François Hollande „Non“ sagt.
Auf den ersten Blick wirkt es paradox: Ein Vertreter des zweitkleinsten EU-Staates führt die mächtige Eurogruppe, die den finanzpolitischen Kurs im gesamten Währungsraum koordiniert. Gerade mal 500.000 Einwohner hat das Großherzogtum Luxemburg, nicht mehr als eine mittlere deutsche Großstadt. Trotzdem geht der Einfluss des populären Ministerpräsidenten Juncker in der EU weit über die Grenzen seines Landes hinaus.
„Goldenes Schlitzohr“
Der gelernte Jurist ist seit 1995 im Amt und damit der dienstälteste Regierungschef Europas. Unter seinen Kollegen ist er der einzige, der die gesamte Entstehung der Währungsunion miterlebt und mitgeprägt hat. Als Vorsitzender des Rates der Finanz- und Wirtschaftsminister gehörte er schon 1991 zu den treibenden Kräften des Vertrags von Maastricht, der „Geburtsstunde der EU“. Fünf Jahre später wurde er als „Held von Dublin“ gefeiert, als auf dem irischen EU-Gipfel der zwischen Deutschland und Frankreich umkämpfte Stabilitätspakt dank seiner Vermittlungskunst doch noch zustande kam.
Beobachter bescheinigen dem brillanten Rhetoriker Juncker aber nicht nur diplomatisches Geschick und Durchsetzungsvermögen, sondern auch Witz und Charme. Seine Schlagfertigkeit, die ihm den Titel „Goldenes Schlitzohr“ einhandelte, hat schon manch dröge Verhandlungsmarathons und Pressekonferenzen aufgelockert. Im deutschen Fernsehen gehörte er lange Zeit zu den Stammgästen politischer Talkrunden, zumal Juncker neben Letzeburgisch, Französisch und Englisch auch fließend Deutsch spricht. Seine Fähigkeit, komplizierte Sachverhalte in vier Sprachen einfach und klar darzulegen, begünstigt denn auch seine Rolle als Vermittler zwischen den Fronten innerhalb der Eurogruppe.
„So etwas wie der ideelle Gesamteuropäer“
Der Politprofi sei „so etwas wie der ideelle Gesamteuropäer“, weil eigentlich jeder gut mit ihm zurechtkomme, sagte einmal ein ranghoher deutscher Regierungsbeamter. Und so ist Juncker als Dauer-Vorsitzender der Eurogruppe natürlich auch so etwas wie ein personifizierter Kompromiss - ein Kompromiss zwischen den südlichen Mitgliedstaaten, die auf finanzielle Erleichterungen in der Krise pochen, und den stärker auf Haushaltsdisziplin bedachten Nordländern. Und einer der seltenen Kompromisse, mit dem alle Seiten ziemlich zufrieden zu sein scheinen.
Nun ist es aber natürlich nicht so, dass alle nationalen Interessen des Ministerpräsidenten plötzlich ruhen würden, sobald er als Eurogruppen-Chef agiert. Tatsächlich hat sich Juncker mehrfach den Unmut seiner Kollegen zugezogen, indem er den Banken-Standort Luxemburg vehement gegen jegliche Regulierungsversuche verteidigt hat. So blockiert er ein EU-Abkommen mit der Schweiz, mit dem ins Ausland geschafftes Vermögen von Steuersündern leichter eingetrieben werden könnte. Denn gäben die Eidgenossen ihre Geheimniskrämerei auf, müsste Luxemburg nachziehen. Und auch die Einführung einer Finanztransaktionssteuer im kleinen Kreis ohne die Briten stößt im Großherzogtum auf wenig Gegenliebe.
„Keine vergnügungssteuerpflichtige Aufgabe“
Trotz solcher Anflüge von Egoismus wurde das Amt des Eurogruppen-Vorsitzenden seit dessen Einführung 2005 stets von Juncker bekleidet. Im Schatten der dräuenden Finanzkrise war der Wunsch nach Kontinuität und Erfahrung innerhalb des Gremiums so groß, dass der EU-Veteran - entgegen der Statuten - zwischenzeitlich für eine dritte Amtszeit bis 2010 bestätigt wurde. Nun folgt seine fünfte, in der er noch mal eben den Fahrplan für die Wirtschafts- und Währungsunion der Zukunft mit entwerfen soll. Möglicherweise übergibt er das Euro-Zepter danach an den neuen französischen Finanzminister Pierre Moscovici, der sich bis dahin auf europäischem Parkett warmlaufen könnte.
Juncker käme das sehr zupass, wie er jüngst selbst verriet. Das Amt des Eurogruppen-Chefs sei „keine vergnügungssteuerpflichtige Aufgabe“, weshalb er „keine existenziellen Beweggründe“ habe, es weiterzuführen. Im Gegenteil: „Eurogruppe heißt vier Stunden am Tag intensiv arbeiten. Und die vier Stunden hätte ich gerne höchstpersönlich für mich selbst.“ Dies sei, das wolle er gar nicht verhehlen, „eine absolut egoistische Herangehensweise“. Vielleicht findet der bekennende Rilke-Fan im neuen Jahr wieder mehr Zeit für die Gedichte des Lyrikers. Falls nicht, hätte er sich von seinen europäischen Kollegen wohl doch wieder aufs Eis führen lassen. (dapd)