Essen. Mit der Klageflut wächst die Unzufriedenheit. Die Hartz-IV-Gesetze seien oft lückenhaft und unkonkret; die Politik lasse die Gerichte mit dem Problem alleine, sagt Jürgen Brand, Präsident des Landessozialgerichts. Seine Prognose: In diesem Jahr wird es in NRW bis zu 29.000 Klagen geben.

Vor fünf Jahren haben die Hartz-IV-Gesetze den Bundestag passiert. Inzwischen hat das Bundessozialgericht in mehr als 100 Grundsatzurteilen nachbesseren müssen. Lässt die Politik die Richter das Problem alleine ausbaden?

Jürgen Brand: Das kann man so sagen. Die Hartz-IV-Gesetze sind für mich wie eine Wundertüte. Je länger ich damit gearbeitet habe, desto mehr habe ich festgestellt, wie unendlich viele Fragen offen bleiben, die dann durch die Gerichte geklärt werden müssen. Insofern werden wir mit dem Problem allein gelassen.

Wo hakt es besonders?

Brand: Das Hauptmanko der Hartz-IV-Gesetze ist, dass sie entweder keine oder zu allgemeine Regelungen enthalten. Nehmen Sie zum Beispiel die Erstattung der Mietkosten. Da steht im Gesetz einfach nur: Die angemessene Miete wird erstattet. Doch was ist angemessen? Das Bundessozialgericht hat hierzu schon einige Urteile gesprochen. Doch die Richter entscheiden natürlich immer nur in Einzelfällen. Ihre Urteile können die Arbeit des Gesetzgebers nicht ersetzen.

Liegt das Problem zum Teil auch an der schlechten Arbeit der Jobcenter?

Brand: Ja natürlich. Dennoch möchte ich die Arbeitsgemeinschaften nicht in Grund und Boden stampfen. Sie haben mit einer noch viel größeren Menge an Fällen zu kämpfen als die Gerichte. Zudem sitzen bei den Jobcentern viele Mitarbeiter mit befristeten Verträgen. Manche sind nur sehr oberflächlich eingearbeitet worden. Darüber hinaus speisen sich die Argen aus sehr unterschiedlichen Unternehmenskulturen: Die einen Mitarbeiter kommen aus den städtischen Sozialämtern und die anderen aus den staatlichen Arbeitsagenturen. Unter diesen Umständen ist es schwer, Teams aufzubauen.

Sie fordern jetzt eine radikale Überarbeitung der Hartz-IV-Gesetze. Was empfehlen Sie?

Brand: Ganz wichtig ist, dass die Regelungen konkreter werden. Man sollte nicht zu viel den Gerichten überlassen. Es gibt eine Vielzahl an Bereichen, für die der Gesetzgeber dringend neue Gesetze schaffen oder zumindest das alte Gesetz erheblich überarbeiten sollte. Dabei müssten die Erfahrungen aus der Praxis einfließen.

Haben Sie die Hoffnung, dass das bald passiert? Der Druck wächst ja mit der Klageflut.

Brand: Ich denke, dass das Problem Hartz IV nach der Bundestagswahl angegangen wird.

Wie hoch ist die Erfolgsquote der Hartz-IV-Kläger in NRW?

Brand: Wir liegen bei etwa 45 Prozent. Das ist sensationell hoch, wenn Sie bedenken, dass die Fälle bereits ein Verwaltung- und ein Widerspruchsverfahren durchlaufen, bevor die Sozialgerichte sich damit beschäftigen. In anderen Bereichen liegt die Erfolgsquote dagegen bei unter 30 Prozent.

Können Sie die Kläger verstehen?

Brand: Ja sicher. Das hat ja auch alles mit der steigenden Armut zu tun. Die stehen mit dem Rücken zur Wand und kämpfen um ihr Recht. Und darum, dass sie unter menschenwürdigen Bedingungen leben können.

Sind die Hartz-IV-Sätze zu niedrig?

Brand: Die Sätze für Kinder sind auf jeden Fall zu niedrig. Das wird ja auch derzeit vom Bundesverfassungsgericht überprüft.

Lehnen Sie Hartz IV grundsätzlich ab?

Brand: Nein, nicht grundsätzlich. Aber es müsste mehr Einzelfall-Gerechtigkeit geschaffen werden. Der Nokia-Arbeiter, der nach 20 Jahren seinen Job verliert und nach einem Jahr ins Arbeitslosengeld II abrutscht, wird genauso behandelt wie derjenige, der seit Jahrzehnten arbeitslos ist. Dieses Missverhältnis könnte man zum Teil dadurch lösen, dass man die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I erhöht. So sollten auch Unter-50-Jährige, die länger eingezahlt haben, wenigstens 18 Monate Arbeitslosengeld I erhalten. Man könnte auch die Freibeträge für ehemalige Berufstätige erhöhen.

Berlin verzeichnet derzeit Rekordzahlen bei den Hartz-IV-Klagen. In NRW hat sich die Lage dagegen seit Jahresbeginn etwas entspannt. Wird sich das ändern, wenn die Wirkung der Wirtschaftskrise voll durchschlägt?

Brand: Entwarnung können wir auch für NRW nicht geben. Die Zahlen sind auf hohem Niveau geblieben. Sie sind nur nicht explodiert. Im vergangenen Jahr hatten wir um die 26.000 Klagen. Ich rechne in diesem Jahr mit einem weiteren Anstieg auf bis zu 29.000 Klagen. Wir haben derzeit 1,2 Millionen Menschen in Kurzarbeit. Irgendwann steht vielen von ihnen die Arbeitslosigkeit bevor. Weitere Klagen sind da schon vorprogrammiert.