Essen/Bochum. . Die alte Sprache Latein wird an den Schulen wie ein Heiligtum gepflegt. Aber Eltern fordern ein modernes Fremdsprachenangebot. Arbeitgeber, Lehrer und Wissenschaftler fordern Kenntnisse in Spanisch oder Chinesisch statt Latein.
Arbeitgeber, Lehrer und Wissenschaftler kratzen an einem Sprach-Heiligtum. Sie raten Schülern ab, viel Zeit in das Erlernen toter Sprachen zu investieren. Ihre Botschaft: Lernt in der Schule lieber Spanisch, Chinesisch oder Türkisch als Latein!
„Unser modernes Wirtschaftsleben ist auf den Austausch mit anderen Ländern ausgerichtet. Viele Wirtschafts-Partner sitzen in Osteuropa, Asien und Lateinamerika. Und viele Kunden, auch im Inland, sprechen nicht Deutsch. Wir brauchen Beschäftigte, die die Sprachen dieser Menschen sprechen“, sagt Barbara Dorn von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Mario Oesterreicher, Chef des Verbandes Moderne Fremdsprachen, fordert ein größeres Angebot von Sprachen wie Chinesisch oder Niederländisch an den Schulen. Schüler mit solchen Sprachkenntnissen hätten später viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als „Lateiner“. Sogar der Vorsitzende des Altphilologenverbandes, Bernhard Zimmermann, gibt zu: „Wer Richtung Wirtschaft denkt, ist mit ausgefallenen Sprachen wie Arabisch oder Chinesisch besser beraten.“
Latinum als Zulassungsbeschränkung für einige Studienfächer unnötig?
Zwar „boomt“ Latein nach wie vor an den Gymnasien, aber die „kleinen“ Sprachen holen auf. Die Zahl der Spanisch-Schüler in NRW hat sich in zehn Jahren fast vervierfacht: auf 120 000. Niederländisch lernen heute 20 000 Schüler, das sind etwa dreimal so viele wie im Jahr 2002. Latein, aber auch Französisch gehörten zu den Fächern, die Schüler am häufigsten scheitern lassen, gibt Ilse Führer-Lehner von der Gewerkschaft GEW zu bedenken. Über Latein sagt sie: „Es fehlen Anwendungsmöglichkeiten und somit der praktische Nutzen, der Kinder den Sinn des Lernens erschließen lässt.“
Karin Kleppin, Leiterin des Fremdsprachen-Zentrums an der Ruhr-Uni Bochum, hält das Latinum als Zulassungsbeschränkung für einige Studienfächer für unnötig. „Für viele Studenten ist es eine Qual, das Latinum an der Uni nachzuholen und sie brauchen die dort erlernten Kompetenzen kaum“, so Kleppin. Das Latinum ist an der Ruhr-Uni in 15 Studiengängen Pflicht, an der Uni Münster sind es 24. Viele Studenten halten diese Hürden für eine versteckte Zulassungsbeschränkung.
Frust an der Uni
Mittwoch, 8.30 Uhr, Ruhr-Uni Bochum: Im Hörsaal HGB 20 ist die Stimmung nicht nur wegen der frühen Stunde düster. Die Mienen der Studenten passen zum Ambiente. Die Szene wirkt so heiter wie eine Schallschutzmauer an der A 40.
Hier sitzen junge Menschen, die wegen diverser Zulassungsbestimmungen ihr Latinum nachholen müssen. Ihr Frust ist groß. Weil sie wissen, dass dieser Kurs im normalen Studienalltag kaum zu bestehen ist. Weil es sich den meisten nicht erschließt, was ihnen dieser Kurs im Studium anderer Fächer bringen soll.
Gabriele Schwabe leitet Latein-Kurse an der Ruhr-Uni. Sie kennt den Frust der Studenten, die unter großen Mühen ihr Latinum nachholen müssen. Aber am Sinn der alten Sprache im Schulunterricht zweifelt sie nicht: „In der Schule lernen Schüler systematisches Sprachenverständnis immer noch am besten am Lateinischen. Natürlich könnte man in anderem Sprachunterricht systematischer auf Grammatik eingehen. Aber in der Realität wälzen die meisten Lehrer dies auf den Deutschunterricht ab, und dort findet es letztlich auch nicht statt.“
Latein hat bisher allen Versuchen, es als Schulfach zu beerdigen oder zumindest in seiner Wichtigkeit zu beschneiden, getrotzt. Eine Viertelmillion Schüler lernen in NRW Latein, viel mehr als vor zehn Jahren. Weil es allgemein den Umgang mit Sprache schulen und das Lernen weiterer Sprachen erleichtern soll. Und weil viele glauben: Vielleicht brauche ich das Latinum ja später an der Uni. Laut neuester Erkenntnisse helfen Lateinkenntnisse sogar beim Erlernen und Verstehen des Deutschen, laut Altphilologen-Verband eine große Chance insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund.
Ein deutsches Phänomen
Der Hang zur klassischen Sprache scheint ein deutsches Phänomen zu sein. „In Frankreich lernt vielleicht ein Prozent der Schüler Latein, in Bayern sind es 50 Prozent der Gymnasiasten“, sagt Mario Oesterreicher, Präsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen (GMF). Oesterreicher will alte Zöpfe abschneiden. Latein fördert das logische Denken? „Das schaffen andere Sprachen auch“, sagt er. Latein hilft im Deutschunterricht? „Warum verbessert man dann nicht den Deutschunterricht?“ Zudem befürchtet Bernhard Zimmermann vom Altphilologen-Verband, dass Latein funktionalisiert wird, zum Steigbügelhalter für andere Sprachen. „Dann fällt der kulturelle Aspekt hintenüber. Die Kenntnis der antiken Kultur, Literatur, Kunst.“
Mit Beschäftigten, die den „Ablativus Absolutus“ beherrschen, ist Arbeitgebern nicht gedient. Sie wollen Sprachkompetenz, die weltweit sofort einsetzbar ist. „Junge Menschen sollten durchaus darüber nachdenken, neben Englisch eine weitere Sprache wie Französisch, Spanisch, Chinesisch, Russisch oder Türkisch in der Schule zu lernen. Aber das Sprachen-Angebot sollte zum Schulprofil und zum Einzugsbereich der Schule passen. Vor allem aber brauchen wir entsprechende Lehrer und Standards für diese Sprachen.“, sagt Barbara Dorn von den BDA-Arbeitgeberverbänden.
Klassik statt Moderne
Das Problem: In der Regel ist an Schulen nur das Angebot an „Klassikern“ wie Latein, Englisch und Französisch gut. Aber es gibt Schulen, die ihr Profil mit anderen Sprachen schärfen. Am Essener Burg-Gymnasium kommen Gymnasiasten aus der ganzen Stadt zum Chinesisch-Unterricht. Anfangs auf freiwilliger Basis, inzwischen ist es regulärer Unterricht in der Oberstufe. Schulleiterin Petra Schnell-Klöppel beobachtet seit Anfang der 1980er-Jahre einen Wandel vom Elternwillen, weg von alten Sprachen hin zu den modernen. Allerdings hat sie auch festgestellt: „Dass wir Chinesisch anbieten, stößt auf Interesse, doch die Zahl derer, die es dann wirklich machen, ist klein.“ Die Eltern sehen die Vorteile in der globalisierten Wirtschaftswelt für ihren Nachwuchs, allerdings auch die Schwierigkeit, mit der sehr fremden Sprache auf eine gute Note zu kommen.
Portugiesisch für alle
Seit 30 Jahren schon gibt es am Max-Planck-Gymnasium in Dortmund Portugiesisch-Unterricht. Zunächst nur als mutterspachlichen Unterricht für die große Gruppe portugiesischer Einwanderer, seit 15 Jahren auch für alle anderen. 20 bis 25 Schüler sitzen in den Kursen, die wahlweise in Klasse 8 als Wahlpflichtfach oder in der Stufe 11 als neu einsetzende Fremdsprache starten. Schulleiter Jürgen Becker stellt ein großes Interesse für moderne Sprachen fest – vor allem bei den Eltern, die im Einzugsgebiet der Schule zu einer überwiegend bildungsbewussten Schicht zählen. Immer wieder fragten sie nach Spanisch- und Chinesisch-Unterricht. Dort, wo diese Kinder hinwollten, so Becker, zähle Englisch schon nicht mehr als Fremdsprache. Europa und die Globalisierung im Blick müssten andere Sprachen her, mit möglichst großer Sprecherzahl.
Türkisch in der Nische
Ilse Führer-Lehner von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Nordrhein-Westfalen glaubt, dass es bei den Jugendlichen ein großes Interesse gibt, Türkisch zu lernen. „Da ist ein Potenzial, dem nicht entsprochen wird“, sagt sie mit Blick auf das bisher geringe Angebot. Viele Schulen hätten zudem große Bedenken, insbesondere diese Sprache anzubieten: „Ich glaube nicht, dass eine Schule ohne Prestigeverlust Türkisch einführen kann.“ Dabei seien die Schüler durch Freundschaften zu Muttersprachlern hoch motiviert und hätten, ebenso wie beim Spanischen oder Niederländischen zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, durch Reisen oder Schüleraustausch. Führer-Lehner: „Wenn die Motivation da ist, dann lernt man besser.“