Toulouse. Nervenkrieg in Frankreich: Seit den Morgenstunden belagert die Polizei das Haus des mutmaßlichen Serienmörders. Spezialeinheiten haben das Gelände umstellt, doch ein erster Festnahme-Versuch ist fehlgeschlagen. In der Nacht will der Mann angeblich aufgeben.
Der mutmaßliche Todesschütze von Toulouse will sich nach Angaben von Innenminister Claude Guéant in der Nacht der Polizei stellen. Die Verhandlungen zwischen dem Verdächtigen und den Beamten dauerten am Mittwochabend an, sagte Guéant der Rundfunkanstalt France-2. Unter anderem habe der Mann "Bedingungen für seine Kapitulation" gestellt. "Er sagte, er wolle aufgeben, aber er wolle es in der Nacht tun", sagte der Innenminister. "Er will in der Nacht aufgeben, weil das weniger Aufmerksamkeit erregt." Die Polizei sei angewiesen worden, den Verdächtigen lebend zu fassen, "um ihn vor Gericht zu stellen, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird", sagte Guéant.
Der Serien-Attentäter bekannte sich zuvor zu den drei Angriffen, bei denen in den vergangenen Tagen sieben Menschen starben. Der 24-jährige Mohammed M. habe sich als Einzeltäter ausgegeben, sagte der Staatsanwalt von Paris, François Molins.
Von islamistischen Selbstmord-Aktionen hält der algerischstämmige Franzose nach Angaben der Staatsanwaltschaft nichts. Er habe gesagt, "dass er keine Märtyrer-Seele hat, er zieht es vor zu töten und selbst am Leben zu bleiben", sagte der Staatsanwalt von Paris, François Molins, am Mittwoch in der südfranzösischen Stadt.
Elitepolizist steht mit dem Mann in Kontakt
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft steht ein Elitepolizist in Kontakt mit dem algerischstämmigen Mann, der am Morgen gesagt hatte, er sei Mitglied des islamistischen Terrornetzwerks Al-Kaida. Der mutmaßliche Serien-Attentäter zeige "keinerlei Reue", vielmehr bedauere er, dass er nicht noch mehr Menschen habe töten können. Seine Attentate glorifiziere er mit den Worten, er habe "Frankreich in die Knie gezwungen". Der 24-Jährige plante demnach, einen weiteren Soldaten sowie zwei Polizisten zu töten.
Um drei Uhr morgens wurden die Anwohner in der ruhigen „Rue du Sergent Vigné“ jäh aus dem Schlaf gerissen werden: Sie hören, wie Schüsse durch die Nacht peitschen und die Sirenen der Krankenwagen aufheulen. Eine der aufwändigsten Polizeiaktionen in der Geschichte Frankreichs, die Fahndung nach dem Serienkiller von Toulouse, erreicht ihren dramatischen Höhepunkt.
Die schwerbewaffneten Anti-Terrorspezialisten der Elite-Eingreiftruppe RAID belagern das Mehrfamilienhaus mit der Nummer 17, in dem Mohamed Merah lebt. Der Mann, der offenbar innerhalb von acht Tagen sieben Menschen in Toulouse und Montauban kaltblütig erschossen hat. Das Wohnviertel Côte Pavée in der Nähe des Bahnhofs befindet sich an diesen Mittwoch im Belagerungszustand, über Tausend Polizisten haben die Hauptstadt Okzitaniens fest im Griff.
Der "Motorroller-Mörder" widersetzt sich hartnäckig seiner Festnahme
Der mutmaßliche „Motorroller-Mörder“ ist gestellt, aber er widersetzt sich hartnäckig seiner Festnahme. Offenbar bis an die Zähne bewaffnet verschanzt er sich in seiner kleinen Parterre-Wohnung. „Als sich die Polizisten der Tür des Verdächtigen näherten, hat jemand aus der Wohnung geschossen“, berichtet später Frankreichs Innenminister Claude Guéant, der den Einsatz von Beginn an vor Ort verfolgt. Drei Beamte der Spezialeinheit werden bei diesem Schusswechsel leicht verletzt, einer am Knie.
Zwei weitere Schusswechsel folgen, es gibt auch eine Detonation. Doch die Festnahme scheitert im ersten Anlauf – und ein mehrstündiger Nervenkrieg nimmt seinen Lauf. Das erklärte Ziel der Elitepolizisten: Sie wollen Merah unversehrt festnehmen. Eine Stürmung der Wohnung, bei der er im Kugelhagel sterben könnte, kommt nicht in Frage. Weil seine aus Algerien stammende Mutter jede Vermittlung ablehnt, suchen die Verhandlungsspezialisten den direkten Kontakt zu dem 23-jährigen Karosseriearbeiter. Und dieser, unberechenbar und hochgefährlich, erweist sich zu ihrer Überraschung als ausgesprochen mitteilsam. „Ich bin ein Mudschaheddin El Kaidas“, behauptet der Verdächtige, und lässt in weiteren Telefonaten Geständnisse folgen. Darin bekennt er sich zu den schrecklichen Taten, die die Nation seit Tagen schockieren: die Erschießung von drei Fallschirmjägern sowie das Blutbad vor der jüdischen Schule, bei der ein Rabbiner, seine beiden Kinder und eine weitere Schüler ums Leben kamen.
Der Täter wirft seine Waffe den Polizisten zu - es ist die Tatwaffe
„Er wollte Rache üben für das Leiden der palästinensischen Kinder und er wollte ebenfalls Rache nehmen an der französischen Armee für ihren Einsatz in Afghanistan“, umreißt der Innenminister die Motive des Verdächtigen. Als Beweis wirft Merah den Polizisten jene Waffe vor die Füße, die er bei seinen unfassbaren Verbrechen benutzte: einen Colt mit dem Kaliber 11.43. Im Laufe des Vormittags wird ein neues Detail bekannt: Nur zwei Stunden vor dem spektakulären Polizeieinsatz hat sich Merah telefonisch bei der Chefredakteurin des französischen Nachrichtensenders „France 24“ gemeldet und sich elf Minuten lang detailliert zu Anschlägen von Toulouse und Montauban bekannt.
Die Fahnder der französischen Polizei haben in den letzten Tagen rund um die Uhr gearbeitet. Dann, am Dienstag, kommen sie dem meistgesuchten Verbrecher Frankreichs endlich auf die Schliche. Sie finden heraus, dass der vor zehn Tagen in Toulouse erschossene Fallschirmjäger in einer Internetanzeige sein Motorrad zum Kauf angeboten hatte. Die Ermittler prüfen über 500 IP-Adressen, die mit ihm in Verbindung standen. Und stoßen auf den Computer Abdelkazar Merahs - er ist der 27 Jahre alte Bruder. Den möglicherweise entscheidenden Hinweis liefert dann der Yamaha-Händler aus Toulouse, beim dem Mohamed Merah schon seit 14 Jahren Stammkunde ist. Vor wenigen Tagen hatte sich der Karosseriearbeiter bei ihm erkundigt, wie er den Chip für die Satellitenverfolgung seines Rollers vom Typ T-Max 530 deaktivieren kann. Der Händler erkennt Merah auf einem Foto wieder.
In Montauban nimmt Sarkozy Abschied von den getöteten Soldaten
Am Nachmittag, als das aufwühlende Drama in der Rue du Sergent Vigné immer noch andauert, schaut Frankreich für einen kurzen Moment ins 50 Kilometer entfernte Montauban. Dort, in der alten Garnisonsstadt, nimmt die trauernde Nation offiziell Abschied von den erschossenen Fallschirmjägern. Die „Marseillaise“ ertönt und der Präsident spricht. Ehe sich Nicolas Sarkozy auf dem Kasernenhof vor den mit der Trikolore geschmückten Särgen verneigt und Trommelwirbel erklingt, sagt er beschwörend: „Die Republik wird nicht schwach." (mit afp)