Essen. . Zehn Jahre Hartz-Kommission: Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisiert die Auswirkungen der größten Arbeits- und Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie habe entscheidend dazu beigetragen haben, dass die soziale Schieflage in Deutschland zugenommen hat.

Heute vor genau zehn Jahren setzte die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder die Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter dem Vorsitz des damaligen VW-Vorstands Peter Hartz ein. Ihre Vorschläge führten zu den größten Arbeits- und Sozialreformen in der Geschichte der Bundesrepublik – die entscheidend dazu beigetragen haben, dass die soziale Schieflage in Deutschland zugenommen hat, kritisiert der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge im NRZ-Interview.


Zehn Jahre nach Einsetzung der Hartz-Kommission ist die Zahl der Arbeitslosen deutlich gesunken. Sind die Hartz-Reformen eine Erfolgsgeschichte, Herr Butterwegge?

Nein. Die Hartz-Gesetze haben das Problem der Arbeitslosigkeit keiner Lösung zugeführt. Ob der Rückgang der Arbeitslosigkeit mit den Reformen zusammenhängt, ist äußerst fraglich. Die gute konjunkturelle Entwicklung hat dazu erheblich mehr beigetragen. Zudem ist die Statistik geschönt worden. Ein-Euro-Jobber, Über-58-Jährige ohne Vermittlungschance und Menschen, die private Arbeitsvermittler aufsuchen, tauchen darin seither nicht mehr auf. Das erklärte Ziel der Hartz-Kommission war, Arbeitslose schneller zu vermitteln. Die durchschnittliche Dauer von Arbeitslosigkeit ist aber nicht gesunken.


Vor den Reformen galt Deutschland als kranker Mann Europas. Jetzt ist Deutschland Motor wirtschaftlicher Entwicklung. Die Hartz-Reformen haben Vorbildcharakter. So ganz verkehrt können sie doch nicht gewesen sein.

Arbeit und die Verwaltung der Arbeitslosigkeit sind billiger geworden. Der Niedriglohnsektor ist deutlich ausgeweitet worden. Unternehmer, die Dumpinglöhne zahlen, werden durch aufstockende Leistungen für Geringverdiener staatlich subventioniert. Das war meines Erachtens die Hauptintention der Reformer: Man wollte die Löhne senken, um international noch wettbewerbsfähiger zu werden. Das wurde erreicht, hat jedoch südeuropäische Länder, die dadurch ihren wichtigsten „Standortvorteil“ verloren, in die Schuldenkrise getrieben. Außerdem haben die Hartz-Reformen zu einer US-Amerikanisierung des Arbeitsmarktes beigetragen.


Was ist so schlecht daran?

Quantitativ hat sich der Arbeitsmarkt verbessert, qualitativ hat er sich hingegen deutlich verschlechtert. Für den Sozialstaat und die auf ihn angewiesenen Menschen haben die Hartz-Gesetze verheerende Folgen gehabt. Mit den rot-grünen Reformen wurde eine Rutsche in die Armut errichtet. Mit der Arbeitslosenhilfe wurde erstmals seit 1945 eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Transferleistung gestrichen und zugleich das Prinzip der Lebensstandardsicherung außer Kraft gesetzt. Für Familien war besonders der Wegfall einmaliger Leistungen und Beihilfen bitter. Vor den Hartz-Gesetzen lebten eine Million Kinder auf Sozialhilfeniveau, bald nach ihrem Inkrafttreten 2004/05 waren es fast doppelt so viele. Auch erwies sich das Versprechen des „Förderns und Forderns“ als bloßer Werbeslogan der Regierung.
Inwiefern?

Die Maßnahmen zur beruflichen Weiterbildung, also zur Qualifizierung von Arbeitslosen, wurden nach Einsetzung der Hartz-Kommission stark zurückgefahren. Zwar darf man Eigeninitiative und Selbstverantwortung von den Betroffenen verlangen. Aber Vermittlungshindernisse wie Suchtprobleme oder die Entwöhnung vom Arbeitsalltag sind durch Druck einfach nicht behebbar. Repression und Schikanen haben jedoch überhandgenommen.


Wie haben die Hartz-Reformen das gesellschaftliche Klima in Deutschland verändert?

Das sozialpolitische Klima in Deutschland hat sich deutlich verschlechtert, die soziale Schieflage zugenommen. Die Stimmung im Land ist gedrückter geworden, die Angst vor dem sozialen Abstieg hat auch bürgerliche Schichten erreicht. Das bedroht am Ende die Demokratie.

Hartz IV in NRW

In NRW sind 1,57 Millionen Menschen von Hartz IV betroffen.

Allein 431.000 Kinder unter 15 Jahren leben in NRW von Hartz IV.

300.000 Berufstätige verdienen in NRW so wenig, dass sie ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken müssen.

Das sind über 20 Prozent mehr als noch vor fünf Jahren.

Drei von vier Arbeitslosen in NRW beziehen Hartz IV.

Die meisten Hartz-IV-Empfänger in NRW gemessen an der Bevölkerung gibt es in Gelsenkirchen.

In Gelsenkirchen ist jeder Fünfte (21,2 Prozent) unter 65 Jahren Hartz-IV-Bezieher

Der Hartz-IV-Regelsatz beträgt derzeit für einen Alleinstehenden 374 Euro im Monat.

Kinder bis sechs Jahre bekommen 219 Euro, bis 14 Jahre 251 Euro pro Monat.

So splittete sich 2011 der Hartz-Satz auf:

Nahrung, Getränke, Tabakwaren: 128,46 Euro.

Bekleidung: 30,40 Euro

Wohnung, Strom (ohne Miete und Heizung): 30,24 Euro

Möbel, Haushaltsgeräte: 27,41 Euro

Gesundheit, Medikamente: 15,55 Euro

Verkehr: 22,78 Euro

Telefon, Fax: 31,96 Euro

Freizeit, Kultur: 39,96 Euro

Bildung: 1,39 Euro

Beherbergung/Gaststätten: 7,16 Euro

Der Rest sind sonstige Waren und Dienstleistungen.

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