Essen/Riga. Die Regierung Estlands will ehemalige Nazi-Kollaborateure per Gesetz als Freiheitskämpfer ehren. Auch in Lettland marschieren Veteranen. In der EU hält sich der Protest gegen die Mitgliedsstaaten in Grenzen, nur Russland beklagt sich lautstark.
Sie schworen einen Eid auf Adolf Hitler und tragen zum Teil heute noch stolz das Eiserne Kreuz. Im März will die Regierung Estlands ehemalige Angehörige der Waffen-SS per Gesetz als Freiheitskämpfer ehren. Auch in Lettland marschieren jedes Jahr am 16. März Veteranen der SS-Legion durch die Hauptstadt Riga. In der EU hält sich der Protest gegen die Mitgliedsstaaten in Grenzen, nur Russland beklagt sich lautstark. Was steckt hinter dem Nazi-Kult im Baltikum?
Während des Zweiten Weltkrieges hielt die Wehrmacht die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen von 1941 bis 1944 besetzt. Zuvor waren die zwischen 1918 und 1920 unabhängig gewordenen Länder im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts der Sowjetunion zugeschlagen und 1940 von der Roten Armee eingenommen worden. „Als dann die deutschen Truppen 1941 einrückten, empfanden das viele Menschen im Baltikum als Befreiung von der kommunistischen Diktatur“, sagt Andreas Klein, Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga. Deshalb seien die drei Jahre der deutschen Besatzungszeit angenehmer in Erinnerung geblieben als das Leben unter sowjetischer Flagge. Obwohl sich die erhoffte Wiederherstellung der Unabhängigkeit nicht erfüllte, galt der Grundsatz: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
Jährliche Aufmärsche
Jedoch nur für die Mehrheit der Bevölkerung: Juden und Roma wurden ebenso verfolgt, erniedrigt und getötet, wie es im restlichen von Nazi-Deutschland unterjochten Europa geschah. Einige Esten, Letten und Litauer machten sogar freiwillig gemeinsame Sache mit den deutschen Besatzern und unterschieden sich in ihrer Grausamkeit dabei kaum von ihnen. Sie halfen unter anderem bei der Errichtung von Konzentrationslagern, waren an der blutigen Auflösung des Gettos von Kaunas in Litauen beteiligt und meldeten sich zum Teil freiwillig zur Waffen-SS.
Jedes Jahr Ende Juli versammeln sich Veteranen der 20. Grenadier-Division und jüngere Sympathisanten auf den Hügeln von Sinimäe im Nordosten Estlands, um an die Kämpfe der Waffen-SS gegen die Rote Armee zu erinnern. Die alten Männer sehen sich als Freiheitskämpfer für die Unabhängigkeit Estlands – und werden als solche geehrt. Wenige Meter entfernt stehen Gedenktafeln für die jüdischen Opfer des Krieges und die KZ-Gefangenen.
Die Rolle der baltischen Verbände beim Russlandfeldzug der Wehrmacht in Weißrussland und der Ukraine bleibt dagegen weitgehend unbeleuchtet. „Das Kapitel Kollaboration ist hier noch nicht vollends aufgearbeitet, sodass der Blick auf die Zeit von 1941 bis 1944 zum Teil sehr verklärt ist“, sagt Andreas Klein. Das Stadtmuseum von Tallinn zum Beispiel handelt die deutsche Besatzungszeit kurz ab, widmet sich aber ausführlich den Gräueltaten der Sowjets.
Angst vor Russland
Dass sich vermehrt auch junge Letten und Esten in Uniformhemden oder T-Shirts mit SS-Symbolen an den Aufmärschen beteiligen, wertet Baltikum-Experte Klein nicht unbedingt als Indiz für wachsenden Rechtsradikalismus in diesen Ländern: „Man darf das nicht gutheißen, aber muss es im Kontext der großen Gedenkmärsche der russisch-stämmigen Bevölkerung sehen, die jährlich am 8. Mai das Kriegsende feiert. Für das Baltikum aber bedeutete dieser Tag die Fortsetzung der kommunistischen Diktatur.“
Noch immer gebe es in den kleinen Ländern die – wenn auch unbegründete – Angst, dass ihnen ihre Unabhängigkeit wieder genommen werden könnte. Diese gefühlte Bedrohung werde zudem durch den wachsenden Einfluss russischer Investoren im Baltikum sowie in Lettland etwa durch einen Sprachenstreit geschürt. Der etwa ein Drittel große russische Teil des 2,5-Millionen-Einwohner-Volkes fordert, Russisch als zweite Amtssprache einzuführen. Das war schon einmal so – unter sowjetischer Besatzung.
Im Gegensatz zu Estland und Lettland gab es zwar in Litauen keine freiwillige SS-Division – jedoch Polizeibataillone, die Jagd auf Juden machten. Es finden auch keine traditionellen Nazi-Aufmärsche statt. Dennoch steht Litauen zusammen mit Estland, Lettland, Ukraine, Österreich und Kanada auf der Liste der Länder, die laut Simon-Wiesenthal-Zentrum nichts tun, um Nazi-Kollaborateure zu entlarven.