Essen. . Die Krise des Christian Wulff ist auch eine Krise des Typs Politiker. Das Beispiel des verstorbenen tschechischen Staatspräsidenten Vaclav Havel zeigt: Ein Schriftsteller als Staatsoberhaupt wäre auch für die Bundesrepublik kein abwegiger Gedanke.
Im schlimmsten Fall ist Christian Wulff nicht die Ausnahme, sondern Typus: ein Politiker nämlich, der die selbstverständlichen Gewohnheiten der Macht offenbart hat. Erst mit seinem wiederholten Griff zu Vorzugs-Krediten, dann mit den Anrufen beim Springer-Konzern. Die Öffentlichkeit muss ihm erklären, was falsch, was dubios daran war – schon das stellt das Verhältnis zwischen Volk und Präsident in der repräsentativen Demokratie auf den Kopf. Er ist es, der erklären müsste, was richtig ist.
Politiker wie dieser ganz normale taugen nur noch sehr bedingt für das Präsidentenamt. Wulffs Vorgänger, der an sich selbst scheiterte, war dagegen ein Banker – aber sind wir nicht das Land der Dichter und Denker? Und zeigt nicht das Beispiel Vaclav Havel, der von Hunderttausenden mit echter Herzenstrauer zu Grabe getragen wurde, wie tief ein intellektueller Präsident im Volk verwurzelt sein kann? Ist nicht das Leben eines Schriftstellers automatisch frei von moralischen Grau- und Dunkelzonen, die das politische Tagesgeschäft und die Nähe zum Kapital zwangsläufig mit sich bringen? Muss der nächste Präsident oder eine erste Bundespräsidentin nicht jemand mit eingebauter Moralgarantie sein, ausgestattet mit einem Wahrheits-Gen?
Grass, Lenz, Walser – und Herta Müller
Mustert man aber die Garde der deutschen Schriftsteller auf Präsidententauglichkeit durch, so tun sich vor allem Lücken auf. Heinrich Böll ist tot und Günter Grass, der moralische Scharfrichter von einst, ist über seine eigenen, einmal zu kurzen Beine gestolpert. Martin Walser macht nach seiner kommunistischen und seiner nationalkonservativen Phase gerade eine religiöse durch — mit einer Unberechenbarkeit, die intellektuell erfrischend ist, präsidial aber vernichtend wäre. Bliebe von den Großschriftstellern der Bundesrepublik noch Siegfried Lenz, der beliebteste der drei. Er aber hat die Größe der Bescheidenheit und würde das Amt ablehnen, womöglich höflich auf sein hohes Alter verweisend.
Eine Nobelpreisträgerin wie Herta Müller aber hat ihr Profil im Widerstand gegen eine Diktatur geschärft. Moralische Instanz ist sie auch geblieben, als sie aus Ceausescus Rumänien in die Bundesrepublik emigrierte; was sie ist, wurde sie im Aufdecken von ideologischer Herrschaft, von Unterdrückung, die sich bis ins Hirn der Menschen hineinbohrt. Auch ein Vaclav Havel hatte nicht nur den bewundernswerten Mut und Charakter, er hatte auch die Chance, sich an einem unbeliebten Gegner mit klaren Umrissen hinaufzuarbeiten zu moralischer Größe. Und selbst die intellektuellen Tugendwächter der frühen Bundesrepublik schärften ihr Profil an der überwundenen Nazi-Diktatur und den autoritären Gesinnungen, deren letzte Reste ja erst von der ‘68-er-Kulturrevolution hinweggefegt wurden.
Auch Dichtern fehlt das moralische Profil
Spätestens aber mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation ist auch die Ära der Eindeutigkeit zu Ende gegangen. Jetzt gewinnen auch Dichter kein moralisches Profil mehr, das sie für das Präsidentenamt prädestinieren würde. Gut und Böse sind nicht mehr zu unterscheiden, sind Kehrseiten ein und derselben Medaille. Die Beseitigung der Übel lässt nicht automatisch das Gute herrschen, das ist bis in die heutige Arabellion hinein Grundmuster des Politischen geworden.
Deshalb waren Roman Herzog und Johannes Rau die Präsidenten der Jahrzehnte nach dem Mauerfall, die auf sicheren Fundamenten standen. Herzog verkörperte, was immer noch das Beste an der deutschen Politik ist – das Grundgesetz; „Bruder Johannes“ stand auf den Grundfesten des Evangeliums, was allemal mehr zählte als eine auch nicht blütenreine Weste des Ministerpräsidenten und Parteipolitikers Rau.
Das Amt kann einiges ertragen
Ein Intellektueller im Amt des Bundespräsidenten aber war schon der erste, Theodor Heuss. Wichtiger noch war, nach dem verlorenen Krieg, der Patriarch „Papa“ Heuss, der den schwierigen Übergang zur Demokratie behütete. Das Amt kann einiges ertragen, wandernde, singende oder auch irrlichternde Präsidenten. Die Messgrößen für das moralische Format aber sind so integre und politisch über den Tag hinaus denkende Menschen wie Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker. Letzterer erinnert auch schmerzlich daran, dass der Präsident, die Präsidentin ein Format haben muss, das einem Schloss Bellevue angemessen ist – und nicht in einem Klinkerbau in Großburgwedel seine Erfüllung findet.