Moskau. . Zigtausende Russen protestierten am Samstag gegen die Regierung und die Wahlfälschungen am vergangenen Wochenende. Am Sonntag nun kündigte der russische Präsident Medwedew über Facebook an, dass er die Regierung mit einer Untersuchung zu den Betrugsvorwürfen bei der Parlamentswahl beauftragt habe.

Wo sich große Menschenmassen versammeln, entstehen Nebenschauplätze. Vorne auf der Tribüne fordert gerade der 18. Redner die Annullierung der gefälschten Duma-Wahlen, als 130 Meter entfernt ein junger Neonazi mit einer schwarz-gelb-weißen Zarenflagge versucht, eine winterkahle Erle zu erklettern. Die Umstehenden buhen und schimpfen. „Faschist!“ „Idiot!“ „Komm runter!“ Der Jungnazi pflanzt ungerührt sein Banner mit der Aufschrift „Gott mit uns“ ins Geäst, das Publikum skandiert: „Schande! Schande!“ Der Nazi verschwindet, oben aber flattert die Fahne im Schneetreiben – für einige Minuten jedenfalls. Dann holt ein Jüngling sie herunter.

Am Samstag haben sich auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz Zehntausende zur bisher größten politischen Kundgebung in Putins Russland versammelt. Eine Anti-Putin-Kundgebung, die Kommunisten, Nazis, „Piraten“, Schwule und Anarchisten zusammenbringt. Aber die große Masse der Demonstranten mag keine Ideologien. Sie sind jung und fröhlich und hier, um Putin klar zu machen, dass es in Russland einen neuen Machtfaktor gibt: das Volk.

Der Student Ilja sagt, er demonstriere für seine Eltern. „Sie wollen eine Sandgrube eröffnen, bei Perm. Aber die korrupten Bürokraten verlangen immer neue Schmiergelder.“ Sein Freund Schenja demonstriert, weil Ilja auch demonstriert. Der Rechtsanwalt Sergej Schugajew hat sich ein adrettes weißes Schleifchen ans Revers gesteckt, das Symbol der neuen friedlichen Revolution. „Ich habe persönlich Respekt vor Putin. Aber er ist lange genug an der Macht gewesen. Er muss begreifen, dass ihn alle satt haben.“ „Aber wer soll dann Präsident werden? Wer?“, mischt sich ein Tatare in einer weißen Trainingsjacke ein. „Kein Problem“, der Anwalt grinst, „den Job übernehme ich gern.“ Ein paar Meter weiter fragt ein TV-Journalist eine kleine Frau in einem alten Pelzmantel, warum sie hier ist. „Weil es reicht“, sie lächelt ängstlich. „Jedes Mal, wenn du dich an eine Behörde wendest, fühlst du dich hinterher wie angespuckt!“ Aus fernen Lautsprecherboxen dröhnt russischer Rock. „Unser Irrenhaus stimmt für Putin. . .“

Protest in 99 Städten

An diesem Samstag protestiert nicht nur Moskau gegen Putin. In Petersburg gehen 5000 Menschen auf die Straße, in Nowosibirsk 3000, in Archangelsk 2000. In insgesamt 99 Städten wird für Neuwahlen demonstriert, für die Befreiung aller politischen Gefangenen und die Zulassung bisher verbotener Oppositionsparteien. Landesweit nimmt die Polizei über 100 Menschen fest, Prügel für Demonstranten ist russischer Alltag. In Moskau sind 51 000 Polizisten im Einsatz, überschwere Ural-Transporter voll schwer bewaffneter Krieger haben den Roten Platz in eine Wagenburg verwandelt.

Keine Gummisknüppel im Einsatz

Aber keiner der Moskauer Demonstranten bekommt heu­te einen Gummiknüppel zu spüren. Obwohl sie zu Tausenden „Putin hinter Gitter!“ rufen. Obwohl kremlnahe Zeitungen wie die Komsomolskaja Gaseta vorher Angst gesät haben: Die vom Westen gesteuerte Opposition wolle blutige Zusammenstöße provozieren, um ihre Revolution mit Märtyrern zu füttern. Aber auf dem Bolotnaja-Platz steht die Studentin Polina mit einem riesigen Strauß weißer Chrysanthemen: „Die verteile ich an alle. Als Zeichen, dass wir eine friedliche Bewegung sind.“


50 000 bis 70 000 Demonstranten

Die Polizei hat 25 000 Demonstranten gezählt, die Organisatoren über 100 000. Vermutlich waren es 50.000 bis 70.000. Auf jeden Fall zu viele, um sie niederzuknüppeln und zu ignorieren. Noch am Vortag hat der Chef der russischen Gesundheitsbehörde den Russen geraten, am Samstag allen Kundgebungen fernzubleiben, „wegen erhöhter Gefahr von Grippeinfektionen“. Und die Moskauer Schulen haben die älteren Schüler am Samstagnachmittag, pünktlich zum Beginn der Demonstration, zu einer außerplanmäßigen Russisch-Prüfung befohlen.

Aber der politische Erdrutsch ist nicht zu stoppen. Wenige Stunden später kapituliert das vom Staat kontrollierte Fernsehen. Die Wahlschiebungen hat das Fernsehen ebenso ignoriert wie bisherige Proteste. Aber jetzt zeigen alle Kanäle die Oppositionsmassen in den Hauptnachrichtensendungen. „Eine grandiose Kundgebung“ murmelt der Kommentator des halbstaatlichen Senders NTW. Das Regime weicht einen Schritt zurück.

Jung, frech, ironisch und friedlich

Die neue Opposition auf dem Bolotnaja-Platz kümmert das wenig. Sie ist jung, frech, ironisch, aber friedlich. Sie ist sehr europäisch. Ein Jüngling tänzelt mit einer Gitarre im Kreis und singt russisch-englisch. „Ich bin sehr intelligent. But I fuck the government“, (ich sch... auf die Regierung) Die neue Opposition lacht.

Am Sonntag teilte der russische Präsident Dmitri Medwedew über das Onlinenetzwerk Facebook mit, das er die Regierung mit einer Untersuchung zu den Betrugsvorwürfen bei der Parlamentswahl vergangene Woche beauftragt habe.

Internetnutzer kritisieren Medwedew auf Facebook

Innerhalb von nur einer Stunde hat sich Medwedew auf Facebook damit mehr als 2.200 wütende Kommentare eingefangen. Nach den umfassendsten Protesten in Russland seit dem Ende der Sowjetunion schrieb Medwedew auf seiner Facebook-Seite, er stimme den Forderungen der Kundgebungen nicht zu. Er habe aber die Regierung angeordnet, allen Berichten über mutmaßliche Wahlmanipulation nachzugehen.

Zahlreiche Internetnutzer reagierten mit Antworten wie "Schande!" oder "Wir glauben dir nicht". Andere Facebook-Aktivisten fragten den Präsidenten zynisch, ob er denn tatsächlich gegen die wesentliche Forderung der Demonstranten sei - also gegen den Slogan "Wir sind für faire Wahlen". Einige schrieben, die jüngste Nachricht Medwedews habe sie noch in ihrer Entschlossenheit bestärkt, an einer weiteren, für den 24. Dezember geplanten Demonstration teilzunehmen. (Mit Material von dapd)