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Gaddafi ist tot, sein Regime gehört der Geschichte an. Zehntausende feierten in Bengasi am Sonntag die Geburt eines neuen Libyens. In die zahllosen Beifallsbekundungen all der westlichen Staaten, die bis vor kurzem noch gute Geschäfte mit dem gestürzten Despoten machten, mischten sich am Tag der Freude auch nachdenkliche Töne.

Die neuen Machthaber mögen doch bitte die Menschenrechte achten, ließ sich EU-Außenkommissarin Catherine Ashton vernehmen. Das könnte auf den Umgang mit Gaddafi-Anhängern bezogen gewesen sein – die Leichen von mehr als 50 von ihnen wurden am Sonntag in der bis zuletzt umkämpften Stadt Sirte gefunden. Etlichen waren die Hände gefesselt. Es deutet viel darauf hin, dass sie von Kämpfern des Übergangsrates exekutiert wurden. Vor allem aber treibt den Westen die Frage um, wohin das neue Libyen steuert, in dem die Scharia, das islamische Recht, die Grundlage aller Gesetze sein soll.

„Eine nationale
Identität schaffen“

Dies hatte Mustafa Abdul Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, den der Gebetsfleck auf seiner Stirn als frommen Mann ausweist, in Bengasi verkündet. Gesetze, die im Widerspruch zum Islam stünden, würden annulliert, sagte Dschalil. Er beeilte sich gestern aber zu betonen, dass Libyer moderate Muslime seien.

Gleichwohl dürfte seine Ankündigung im Westen Unbehagen ausgelöst haben. Scharia – damit verbindet man im Westen drakonische, inhumane Körperstrafen, wie sie etwa beim ansonsten engen Verbündeten Saudi-Arabien verhängt werden; damit verbindet man die Unterdrückung von Frauen und Missachtung von Menschenrechten. Im Rechtssystem der Scharia („der Pfad“ oder „der Weg“) gilt Gott als der oberste Gesetzgeber. Die Scharia in ihrer puren Form regelt das gesamte religiöse, politische, soziale, häusliche und individuelle Leben der Muslime. Meist wird sie aber nur zivilrechtlich angewandt – ähnlich dem deutschen Personenstandsgesetz. So etwa in Ägypten, Algerien oder Indonesien.

Ein flexibles Rechtssystem

Ist Libyen also auf dem Weg in einen Gottesstaat? Gemach, meint der Islamwissenschaftler Udo Steinbach. Ihn habe es nicht überrascht, dass Dschalil die Scharia zur Rechtsgrundlage erklärt habe. „Der Übergangsrat steht vor der Aufgabe, nach 42 Jahren Gaddafi eine nationale Identität zu schaffen.“

Da die Revolution vom eher islamisch geprägten Osten des Landes ausgegangen sei, sei die Ankündigung nur ein „natürlicher Schritt“ gewesen, so Steinbach. Die Scharia sei allerdings ein „flexibles Rechtssystem“ und müsse keinesfalls so konservativ interpretiert werden, wie es in Saudi-Arabien, dem Iran oder Pakistan der Fall ist.

Das betont auch Asiem el-Difraoui von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „Es sagt zunächst einmal wenig aus, wenn man heute sagt, dass die Scharia Rechtsgrundlage ist.“ Die Scharia, so el-Difraoui, sei kein starres Gesetzeswerk mit dem Koran als einziger Quelle. Sie sei ein „enormer Korpus der Rechtswissenschaft“, in die auch Elemente römischen und persischen Rechts oder überlieferten Stammesrechts eingeflossen seien.

„Im Koran steht nicht, dass Frauen eine Burka tragen müssen“

Die Scharia könne modern interpretiert werden – aber auch völlig rückständig, sagt el-Difraoui. „Im Koran steht nirgendwo, dass man keine Musik hören darf oder Frauen eine Burka tragen müssen.“ Von der Entscheidung, die Scharia als Rechtsgrundlage zu betrachten, lasse sich also nicht ableiten, dass Libyen auf dem Weg zu einem Gottesstaat sei: „Es zeigt aber, dass das Land deutlich islamischer wird.“

Wohin die Reise geht, darauf will sich der Experte nicht festlegen: „Wir kennen die libysche Bevölkerung nicht und wissen nicht, welchen Einfluss Islamisten haben – oder welche islamistischen Gruppen es gibt.“

Unter den Gaddafi-Gegnern Streiter für einen Gottesstaat

Fakt ist: In der Region um Bengasi war in den neunziger Jahren mit der „Libyschen Islamischen Kampfgruppe“ (LIFG) eine Organisation mit dem Gaddafi-Regime in blutige Auseinandersetzungen verwickelt, die in Libyen einen islamischen Gottesstaat errichten wollte. Heute ist sie personell eng mit El Kaida verbandelt. Unter den Rebellen im Osten sollen ehemalige LIFG-Kader und andere militante Islamisten erheblichen Einfluss gehabt haben.

Islamwissenschaftler Steinbach geht dennoch nicht davon aus, dass sich in Libyen eine konservative Auffassung der Scharia durchsetzen wird: „Ein solches Libyen wäre zum Scheitern verurteilt. Es gibt viele moderne Elemente in Bildung, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Menschen werden den Schritt ins Mittelalter nicht akzeptieren.“