Bangkok.
Seit Ende März regiert der Ex-General Thein Sein Birma als Staatsoberhaupt. Seit einem Vierteljahr überrascht er die Welt nahezu täglich mit neuen Reformschritten, die zuvor niemand für möglich gehalten hätte. Das Land, das 50 Jahre lang in der eisernen Faust der Generäle erstickte, erlebt plötzlich wirtschaftliche und politische Reformen.
„Ich will schon seit Jahren das Land verlassen“, schimpfte der birmanische Komiker Zarganar im Jahr 2008 kurz nach dem Wirbelsturm Nargis bei einem geheimen Treffen gegenüber dieser Zeitung in der Hauptstadt Rangun, „aber diese Idioten geben mir keinen Pass.“ Wenige Tage später wurde der Schauspieler, der nach der Katastrophe lauthals über das Versagen der Militärs geschimpft hatte, von Handlangern dieser Idioten festgenommen und für 35 Jahre ins Gefängnis geschickt.
Kaum hatten sich am Mittwoch nach einer Amnestie die Gefängnistore für den 50-jährigen Komiker geöffnet, zeigte Zarganar, dass er hinter Gittern im entlegenen Kachin-Staat alles andere als milde geworden ist. „Präsident Thein Sein ist kleinlich, weil er so wenig politische Gefangene freilässt“, schimpfte er, „ich werde erst ruhen, wenn alle so genannten politischen Gefangen in Freiheit sind.“
Chef der Zensurbehörde fordert Abschaffung der eigenen Behörde
Andere Birmanen haben eine weitaus andere Einschätzung des 65-jährigen Ex-Generals, der seit Ende März als Staatsoberhaupt amtiert und die Welt seit einem Vierteljahr nahezu täglich mit neuen Reformschritten überrascht, die vor sechs Monaten niemand für möglich gehalten hätte. Das Land, das ein halbes Jahrhundert lang in der eisernen Faust der Generäle erstickte, erlebt plötzlich wirtschaftliche und politische Reformen, die gegen Prinzipien verstoßen, die bislang fest in den Genen der Tatmadaw, der Streitkräfte, verankert schienen.
Das staatliche Wirtschaftsmonopol wird zerschlagen. Der Chef der Zensurbehörde verlangt in einem Interview die Abschaffung seiner Behörde. Die Regierung suspendiert den Bau eines umstrittenen 3,6 Milliarden US-Dollar teuren Staudamms und vergrätzt damit ausgerechnet seinen Paten China. Das Internet wird weniger streng zensiert als früher.
Annäherung an Friedensnobelpreisträgerin San Suu Kyi
Präsident Thein Sein verständigte sich sogar mit jener „Lady“, die noch zu seiner Zeit als uniformierter Premierminister vor kaum mehr als einem Jahr in Hausarrest saß: Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi. Im Gegensatz zu anderen Kritikern reagierte die Oppositionsikone des Landes bemerkenswert gelassen auf die relativ geringe Zahl der freigelassenen politischen Gefangenen: „Ich freue mich, das sie freikommen und hoffe, das noch viel mehr das Gefängnis verlassen können.“ Beobachter vermuten, dass sie längst einen Deal über die gestaffelte Freilassung ausgehandelt hat. Etwa 300 der rund 2000 politischen Gefangenen in birmanischen Kerkern kamen laut offiziellen Angaben frei. Menschenrechtsgruppen sprachen von über 200.
Laut Regimekritikern saßen bis Dienstag etwa 2000 politische Gefangene hinter Gittern sowie rund 400 bis 500 ehemalige Offiziere des Geheimdienstes, die vor Jahren einer Säuberung durch den damaligen Diktator Than Shwe zum Opfer gefallen waren und mit Gefängnisstrafen bis zu 120 Jahren verurteilt wurden. Die Regierung bezifferte die Zahl der politischen Gefangenen auf 600, die Europäische Gemeinschaft und die Vereinten Nationen kommen aufgrund unklarer Kalkulationen auf 1300.
Weitere Freilassungen werden erwartet
Laut jüngsten Informationen müssen führende Mitglieder der sogenannten 88-Generation weiter hinter Gittern schmoren. Der Grund: Birmas Machthaber fürchten, dass die Männer und Frauen, die jahrzehntelange Strafen verbüßen, neue Demonstrationen organisieren könnten. Aber in Rangun herrscht Zuversicht, dass auch sie auf baldige Freiheit hoffen können.
„Es ist wichtig, dass die Regierung den Prozess der Freilassung bis zu den Nachwahlen im Dezember abschließt“, setzte Tomas Ojea Quintana, der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen eine Frist, die Thein Sein und seinen Regierungskollegen bestens bekannt ist. Denn Aung San Suu Kyi, deren Partei NLD im vergangenen Jahr die vom Militär organisierten Wahlen boykottierte, versprach dem amtierenden Präsidenten, sie werden sich an den Nachwahlen für 48 Parlamentssitze beteiligen, wenn bis dahin alle politischen Gefangenen auf freiem Fuß und die nötigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen sind.
Rückendeckung durch hohe Militärs
Sie setzt auf einen Mann, dem führende Diplomaten Südostasiens noch im Sommer diesen Jahres das Ende vorausgesagt hatten. Thein Sein galt als schwacher Lückenbüßer, der ziemlich schnell von Reformgegnern und Hardlinern der Than Shwe Junta verdrängt würde. Statt dessen hat sich der frühere starke Mann der Diktatur zurückgezogen und seine Alliierten im Stich gelassen. Thein Seins Durchbruch kam, seit Shwe Man , die frühere Nummer Drei der Militärjunta und heute Parlamentspräsident, ihm den Rücken stärkt. Er genießt immer noch starken Rückhalt in den Streitkräften und so lange er grünes Licht gibt, kennt auch Thein Sein kein Halten mehr.
Wie offen Shwe Man auch gegenüber dem Westen ist, erfuhr unter großen Staunen auch Derek Mitchell, der US-Sonderbeauftragte für Birma, während seines letzten Besuchs. Bei einem Treffen mit Parlamentspräsident Shwe Man parlierte der ehemals geheimnisumwitterte und kontaktscheue Ex-General nicht nur in nahezu fließendem Englisch mit dem Besucher aus Washington. Ihn interessierte vor allem eine Punkt. „Wie können wir helfen, um möglichst schnell zu einem normalen Verhältnis mit den USA zu kommen“, wollte der frühere General immer wieder wissen. Ein Ziel ist offensichtlich das Ende der Sanktionen.
Hoffnung auf ein Ende der Sanktionen
Doch Birma steht immer noch vor einem langen Weg voll zahlreicher Herausforderungen. Denn während Thein Sein sich offenbar blendend mit aung San Suu Kyi versteht und die beiden in vertraulichen Begegnungen den Weg in die Zukunft weitgehend abgesteckt haben, harrt ein Thema immer noch der Lösung: Birma ist ein Land voller ethnischen Gruppen, die teilweise noch dazu bewaffnet sind. „Friedliche Einigungen mit diesen Gruppen stellen die größte Herausforderung Birmas in der Zukunft dar“, sagt ein Kenner des Landes.