Jerusalem. .
Insgesamt 1027 Palästinenser, darunter auch zahlreiche Schwerverbrecher, sollen in den kommenden Wochen freikommen, damit ein israelischer Soldat heimkehren kann. Im ersten Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas übertrat Israels Premier Benjamin Netanjahu viele der von ihm selbst gezogenen roten Linien.
Es hat historischen Seltenheitswert, wenn im Gazastreifen und in Jerusalem gleichzeitig dasselbe Ereignis gefeiert wird. Doch als Montagabend bekannt wurde, dass Israel und die Hamas einen Gefangenenaustausch vereinbart hatten, brach an beiden Orten unbändige Freude aus.
Zehntausende strömten in Gaza auf die Straßen, um die angekündigte Freilassung von 1027 Palästinensern aus israelischer Haft zu zelebrieren: „Die ganze Nacht über tanzten und feierten die Menschen in den Straßen“, sagte Muhammad Dawwas, ein Journalist in Gaza, der WAZ Mediengruppe. Von unzähligen fröhlich hupenden Autos wehte die grüne Flagge der Hamas, während vermummte Kämpfer der Region sich auf Geländewagen in Szene setzten.
Tränen der Freude
Zur selben Stunde strömten in Jerusalem Tausende vor Freude weinend zum Französischen Platz, direkt neben der Residenz von Israels Premier. Hier hausen Aviva und Noam Schalit, die Eltern von Gilad, dem israelischen Soldaten, der in einem waghalsigen Angriff der Hamas im Juni 2006 aus israelischem Staatsgebiet nach Gaza verschleppt worden war, seit über einem Jahr in einem Protestzelt, um an das Schicksal ihres Sohnes zu erinnern. Nach 1934 Tagen Angst um Gilad erlaubte sich das zurückhaltende Paar erstmals, in die Kameras zu lachen: „Mit dieser Entscheidung hat Premier Benjamin Netanjahu ein Kainsmal von der Stirn unseres Staates gewischt“, sagte Noam Schalit.
Noch am Abend setzte sich Hamas-Führer Khaled Maschal in einer Fernsehansprache aus Damaskus in Szene: „Wir sind glücklich über diese große Errungenschaft, obschon unser Glück davon getrübt wird, dass wir nicht alle Häftlinge freibekommen konnten.“ Rund 6000 Palästinenser werden sich nach dem Austausch weiter in israelischen Gefängnissen befinden. Danach zählte Maschal seine Erfolge auf: Alle 27 inhaftierten Frauen würden freikommen, und Hunderte Palästinenser, die für Morde an Israelis lebenslange Haftstrafen absitzen.
Israels dramatische Wende
Maschal, dessen Organisation sich seit Jahren in einem blutigen Bruderkrieg mit der pragmatischeren Fatah befindet, betonte, dass seine Organisation nicht bloß Hamasaktivisten freipressen konnte, sondern auch Mitglieder anderer Gruppierungen. Dennoch wurde schnell Kritik laut: Palästinenser bemängelten, dass Maschal auf prominente Häftlinge verzichtet hatte, und dass 203 der Freigelassenen zum Teil 25 Jahre lang ins Exil gehen müssen.
Für Premierminister Benjamin Netanjahu, der sich in der Vergangenheit strikt gegen Verhandlungen mit Terroristen ausgesprochen hat, symbolisiert Israels erster Gefangenenaustausch mit der Hamas eine dramatische Wende. Obschon Israel in der Vergangenheit wiederholt viele Häftlinge für wenige Soldaten freigelassen hat, zahlte es noch nie einen so hohen Preis. Unter den Freigelassenen befinden sich 280 Terroristen, die „Blut von Israelis an ihren Händen haben“ – also persönlich Attentate verübt oder ermöglicht haben.
Einmalige Gelegenheit
Es seien vor allem die regionalen Entwicklungen, die seine Meinung geändert hätten, sagte Netanjahu: „Ich weiß nicht, ob angesichts des Wandels in unserer Region ein besserer Deal oder überhaupt ein Handel in naher Zukunft möglich gewesen wäre. Hätten wir diese Gelegenheit verpasst, könnte es sein, dass Gilad überhaupt nicht mehr hätte heimkommen können“, so Netanjahu.
Auf beiden Seiten wurde der Deal als großer Erfolg der Hamas gedeutet, der die Extremisten der Hamas im innerpalästinensischen Machtkampf stärken wird: „Es war ein Faktor, der in der Kabinettsitzung aufkam“, sagte ein Regierungsmitarbeiter, der an der Sitzung teilgenommen hatte. Dennoch stimmten am Ende 26 Minister für den Handel, nur drei dagegen: „Dieser Beschluss ist Wasser auf den Mühlen der Islamisten und zeigt ihnen, dass Terror sich lohnt“, sagte Infrastrukturminister Uzi Landau, der den Deal verhindern wollte. In der Vergangenheit hat ein großer Teil der freigelassenen Häftlinge wieder terroristische Tätigkeiten aufgenommen.
Der Terror geht weiter
Reaktionen in Gaza schienen diesen Bedenken Recht zu geben: „Wir werden weiter Soldaten entführen, bis Israels Gefängnisse leer sind“, sagte Abu Attaya, der vermummte und bewaffnete Sprecher der Volkswiderstandskomitees, die an der Entführung Gilad Schalits beteiligt gewesen waren. „Heute spricht der bewaffnete Widerstand. Heute hat der Feind sich unseren Forderungen ergeben, und das war nur der Anfang“, tönte es im Landstrich aus den Lautsprechern der Moscheen.