Essen. .

Der rote Rocker und die Heulsusen der SPD: Oft redet Peer Steinbrück Klartext, ab und an streichelt er die sozialdemokratische Seele, und zu einer Kanzlerkandidatur sagt er nicht nein. Ein Porträt des Politikers.

Zwei Champagnerflaschen stehen in Peer Steinbrücks Eisschrank. Er hatte sie kaltgestellt für 2011. Mit ihnen wollte er das Ende der Neuverschuldung feiern. „Ich hätte sie alleine getrunken“, sagt der SPD-Politiker. Finanzkrise und Bundestagswahl kamen. Sie durchkreuzten die Träume: Die Sache mit den Schulden. Die politische Karriere. Die Uhrzeiten der Ereignisse im Jahr 2009 hat er noch im Kopf, dem Jahr, „in dem wir in den Abgrund blickten“.

Heute ist er ohne Parteiamt und ohne politische Führungsposition. Doch seit dieser Woche hält er im Beliebtheits-Ranking des „Spiegel“ den Platz 2 – nach dem Bundespräsidenten. Zwischen Duisburg und Berlin sind die Säle voll, wenn der Hinterbänkler Griechenlandkrise und Demografie erklärt. Es werden Eintrittskarten ausgegeben und Großleinwände aufgestellt. 50 Buchlesungen waren ausgebucht.

Was passiert hier gerade? Champagner hält sich, und Steinbrück möchte die Flaschen doch noch köpfen. Vielleicht 2013. Vielleicht, wenn er eine neue Chance bekommt, Schulden zu versenken. Als Bundeskanzler.

Offen redet der Mann nicht über seinen Ehrgeiz. Aber er lässt ihn die ganze Republik spüren, die gerne darüber spekuliert. „Sie lieben diese Spekulationen“, gibt ihm Wolfgang Schäuble, sein CDU-Nachfolger im Ministerium, auf den Weg. „Das sagt Ihre Mimik.“

Steinbrück beherrscht Mimik

Steinbrück beherrscht Mimik. Der NRW-Parteimanager Michael Groschek hat ihn, mit ein wenig Umwegen, nach der Kandidatur gefragt. Steinbrück sagt nicht Nein. Er sagt nur, es sei „strengstens verboten“ in der SPD, darüber zu reden. Breit bleckt er dabei die Zähne. Es ist das Steinbrück-Blecken. Was bedeutet: Ja.

Peer Steinbrück auf tour in seinem Wahlkreis. Foto: Jakob Studnar
Peer Steinbrück auf tour in seinem Wahlkreis. Foto: Jakob Studnar © WAZ FotoPool

So drängt der Mann aus NRW seine Partei längst in den internen Wahlkampf. Oberhausen, Stadttheater. Es ist nicht so, dass dem gebürtigen Norddeutschen hier alle Sympathien von alleine zufliegen.

Er war kurz Ministerpräsident in diesem sozialdemokratisch geerdeten Bundesland und hat es als eher unangenehm empfunden, wie sie im Ruhrgebiet immer gekommen sind mit der Forderung nach Staatsgeld. Er mochte nie das Versöhnen-statt-Spalten von Johannes Rau, den sie liebten. Hatte der Stillstand der Rau’schen Ära nicht Vorgänger Clement – und ihn – 2005 die Macht gekostet?

„Wegen Willy“

Vergangen. Vergessen. Das Publikum an diesem frühen Abend sieht so aus, als wäre es „wegen Willy“ in die Partei eingetreten. „Er kommt“, sagt hinten links eine Stimme und lobt: „Ohne Krawatte. Leger.“ Der Beifall ist heftig. Steinbrück redet so steinbrückisch, wie er die Schweiz damals mit der „Kavallerie“ bedroht hatte: Leidenschaftlich. Selbstbewusst. Klartext. Nebensätze und englische Begriffe sind tabu.

Dreimal in 50 Minuten streichelt er die sozialdemokratische Seele. Er fordert den Mindestlohn. Er will eine Umsatzsteuer auf Finanzmarktprodukte, die die SPD, umständlich wie sie sei, Finanzmarkttransaktionssteuer nenne. Und natürlich: Keine Steuersenkung. Das Geld brauche man „dringend“ für Bildung. „Ich werde nie versprechen, dass ich die Steuern senken werde.“ Er betont das Ich, als werde er vor dem Bundestag bald den Eid leisten.

Steinbrück on Tour. Er stellt nicht nur sein Buch „Unterm Strich“ vor. Samstags besucht er Kitas und die Wohlfahrt, Montags den Betrieb Wielpütz Automotives in Hilden, wo er die Qualifizierung lobt. Bei Versammlungen wie der in Oberhausen geht es um Kommunalfinanzen – und doch um den Test, ob der Bärbeißige beim Wahl- und Parteivolk noch ankommt.

Bergkamen im Osten des Ruhrgebiets. Ein gutes Testterrain. Der Wahlkreis Unna II ist Heimspielplatz für die Partei. Bergarbeiterfamilien leben hier. Peer Steinbrück war ihr Landtagsabgeordneter bis 2005. Sie haben ihn gut in Erinnerung. Es gab gerade eine Parteiversammlung mit 300 Leuten. Sein Name fiel. Man nickte, positiv gestimmt.

Rüdiger Weiß ist sein Nachfolger als Abgeordneter im Landtag, auch Chef im größten Ortsverein Bergkamens. Was er davon hält, die CDU-Kanzlerin durch einen wie Steinbrück zu ersetzen? Kein unsympathischer Einfall. Doch: Vorlieben nennt er nicht. Ihn „irritiert“ der Zeitpunkt der Debatte, sagt Weiß. Für 2012 sei sie vereinbart. „Was schadet es, die Füße still zu halten?“

Peer Steinbrück kann zurückhaltend sein. Scheu, meinen die einen – arrogant, finden andere

Die SPD in ihrem 27-Prozent-Loch denkt über all das also zwiespältig. Kompetenz? Keine Frage. Die hat er übrigens nicht nur in der Politik vorgeführt. In der jüngsten Aufsichtsratssitzung bei Borussia Dortmund habe der eingeschworene Gladbachfan „eine perfekte Figur“ gemacht, sagen Teilnehmer. Als Thyssen-Krupp-Aufseher ist er präsent. Er hat kleine Geheimnisse wie den Schiffsmodellbau in seinem Bonner Keller oder die Sammlung hochwertigen Weins, mit dem Steinbrück auch handelt. Nur beim letzten Buchschreiben ist er an seine Grenzen geraten. Der Computer hat das erste Kapitel verschluckt. Sein Sohn hat noch 40 Prozent des Textes retten können. Aber Steinbrück lernt gern dazu.

Nur: Es ist ja völlig offen, wer noch kandidiert. Gabriel? Steinmeier? Vielleicht sogar Hannelore Kraft, wie nicht wenige an Rhein und Ruhr glauben. Und ein Kurt Beck ist Steinbrück auch nicht, einer der mit seiner Masse Mensch jeden liebkosend erdrückt, der im Weg steht.Peer Steinbrück kann zurückhaltend sein. Scheu, meinen die einen. Arrogant, finden andere. Gesprächspartnern fällt auf, dass er aufmerksam mit ihnen redet – sie dabei aber kaum des Blickes würdigt.

Gewisse SPD-Ferne

„Unterm Strich“

Peer Steinbrück, „Un­term Strich“, 480 Seiten, Hoffmann und Campe, ISBN-10: 3455501664, ISBN-13: 9783455501667

Steinbrücks Buch wurde mit dem Preis „Das politische Buch 2011 der Friedrich-Ebert-Stiftung“ ausgezeichnet.

So werden seine Chancen für eine Kandidatur in der Bundespartei „halb und halb“ gesehen. Ganz vergisst der linke Flügel nicht sein Eintreten für die verhassten Hartz-Reformen, die Sparoperationen, sein Abwatschen der Führungsmannschaft („Heulsusen“) nach der Wahlniederlage 2009 und dass manche Konservative ihn dafür loben, was auch manche Sozialdemokraten spüren: Er habe eine „gewisse Ferne zur SPD“.

Dabei wissen alle, dass die Ferne zur Partei gerade den entscheidenden Teil der Wählerschaft näher bringen kann. Den, der nicht parteigebunden ist. Was haben denn Helmut Schmidt, Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau und Steinbrück gemeinsam? Sie sind in dieser Reihenfolge: kühle Hanseaten, taffe Politikmanager, Staatsmann-Typen – und, ja, irgendwann auch noch Sozialdemokraten. Solche Leute mag das Volk, wie der SPD-Sieg in Hamburg gezeigt hat, wo ein ähnlicher Typus jetzt regiert. „Wer hat das Kurzarbeitergeld erfunden?“, fragt Steinbrück nicht ohne Absicht – und antwortet selbst: „Olaf Scholz !“ Auch dank Scholz habe das Land „die Krise gut abgewettert“. Krisen gegenüber muss er eine Hassliebe empfinden.

Bestes politische Buch

Berlin in dieser Woche. Die Ebert-Stiftung würdigt den früheren Finanzminister für das beste politische Buch des Jahres. „Es wird gesagt, Sie sind ein Querdenker, kein Lagerdenker“, sagt Laudator Wolfgang Schäuble. Was Steinbrück sofort belegt: Die Manager müssten sich zurücknehmen. Aber die Politik müsse allen, wirklich allen „Anstrengung“ abverlangen. Man werde länger arbeiten. Es werde auch „die Berufsschule für die 50- bis 55-Jährigen geben müssen“.

Wir hören die Regierungserklärung eines 66-Jährigen.