Essen. Nahezu ungestört verhandeln Obama, Merkel und Co. beim G-8-Gipfel in den Abbruzzen das Klima, den Kapitalismus und die Krise. Die Globalisierungskritik ist auffallend leise. Das Netzwerk Attac kann die Finanzkrise als Steilvorlage offenbar nicht richtig nutzen.
Der Widerspruch hält sich in Grenzen. Nahezu ungestört verhandeln Obama, Merkel und Co. in den Abbruzzen das Klima, den Kapitalismus und die Krise. Die gewohnte kritische Masse scheint der G 8-Gipfel nicht anzuziehen. Was brannte nicht die Luft vor zwei Jahren in Heiligendamm! Hätte man nicht erwarten können, dass die Wut seitdem gewachsen ist? Ist die Finanzkrise nicht die brutalstbeste Steilvorlage für die Globalisierungskritiker? Doch die Abteilung Attacke ist selbst in der Krise.
Der harte Kern
In einem etwas schummrigen Lokal gegenüber dem Unicampus Essen trifft sich die Attac-Ortsgruppe Essen. Drei Mitglieder von etwa hundert sind gekommen, es ist Ferienzeit. Claudia Jetter, Jörg Bütefür und Hans Adler überlegen, welche Referenten man demnächst einlädt, auch ist es schwierig, Veranstaltungsräume zu finden, die VHS hat so eine lange Vorlaufzeit. Im Februar gab es die letzte lokale Demo vor dem RWE-Turm gegen den Bau eines Atomkraftwerks im bulgarischen Erdbebengebiet. Und man ärgert sich: Warum nur hat die Zeitung die Podiumsdiskussion zu den Finanzmärkten nicht angekündigt?
G 8 spielt keine Rolle. Vor Heiligendamm hatten sie noch Trainings veranstaltet, wie man Blockaden im Angesicht der Ordnungsgewalt aufbaut. „Ich hätte mir jetzt auch mehr Aktionen gewünscht”, sagt Claudia Jetter, 46, Lehrerin an einem Berufskolleg.
„Die Schlagkraft von Attac hat in den letzten zwei Jahren deutlich nachgelassen”, erklärt Eckhard Stratmann-Mertens aus Bochum, ein Kritiker aus den eigenen Reihen. „Zum Gipfel wird nicht groß mobilisiert, dafür habe ich keine Erklärung”, sagt der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen.
Auch der Essener Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte sieht Attac kriseln in der Krise: „Die Wut hat keinen richtigen Empfänger. Dieser Gewissheitsschwund macht den Protest schwer.” Und diese Paradoxie, trifft ebenso für die Linke zu: „Man pflegt ein Thema über Jahre, am Ende behält man sogar recht. Aber wenn es um Unterstützung in der Bevölkerung geht, zählt weniger Sympathie als die Kompetenz. Und die wird eher den etablierten Parteien unterstellt.” Zumal diese plötzlich auch alle den „Standardkapitalismus” kritisieren.
„Es ist unserer Herausforderung auf die große, große Kluft zwischen Reden und Handeln hinzuweisen”, verklausuliert die Bundessprecherin von Attac, Frauke Distelrath, die neue Konkurrenz mit Westerwelle. Und natürlich war Attac nicht untätig. Es gab zum Beispiel den Berliner Kapitalismusgipfel im März und Demos mit 40 000 Teilnehmern: „Wir zahlen nicht mehr für Eure Krise!” Tatsächlich ist Attac in den Medien besser vertreten als je zuvor, glaubt man Google. Aber das ist ein quantitatives Phänomen, die Diskussion bestimmen andere.
Es gehört vielleicht zur Dialektik der Globalisierungskritik, dass sie sich auch selbst kritisieren muss: „Es fehlen die Angebote”, sagt Jetter. „Wir sind keine ideologische Organisation, keine Partei. Wir haben einfach keine Visionen.”
Der Weltrettungsplan in der Schublade
Einer, der Visionen hatte, ist Eckhard Mertens-Stratmann. Er hat 2004 eine „Alternative Weltwirtschaftsordnung” für Attac entwickelt, die auch auf einem Ratsschluss (so heißen die Nichtparteitage) offiziell angenommen wurde. Dann ist das Positionspapier in der Versenkung verschwunden.
Das Motto von Attac ist: Eine Alternative ist möglich. „Doch Attac sagt nicht, welche Alternativen”, so der Bochumer. Die Unverbindlichkeit sei Programm. „Bei uns sind alle Antworten möglich.” Einerseits sei das eine Chance: „Das macht uns attraktiv gerade für junge Leute, die noch kein klares Weltbild haben.” Andererseits verhindere es eine klare Stoßrichtung.
Was heißt noch mal Globalisierungskritik?
Am Essener Stammtisch ist man sich sogar uneins über den Begriff Ortsgruppe. Das klingt so nach Partei. Aber bitte, hier ist doch bestimmt eine Alternative möglich? „Lokalgruppe? Gruppe vor Ort? Es ist vieles nicht so ganz festgelegt bei uns”, lacht Jetter.
Netzwerk Attac
"Attac” ist die französische Abkürzung für „Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Nutzen der Bürger”. Zu diesem Zweck wurde das Netzwerk 1998 von einem französischen Journalisten gegründet und fand schnell Resonanz in 50 Ländern.
Neben den Ortsgruppen und einem Kreis festangestellter Mitarbeiter in Frankfurt gibt es noch den nationalen Koordinierungskreis. Die Vollversammlungen nennen sich Ratschlag und beschließen nach dem Konsensprinzip (was in der Praxis 90 Prozent der Stimmen erfordert).
Attac-Mitglied Eckhard Stratmann-Mertens kritisiert: „Attac hat basisundemokratische Strukturen. Der Form nach ist die Organisation basisdemokratisch. Tatsächlich ziehen im Hintergrund die Attac-Gründungsmitglieder die Strippen, also viele Alt-68er. Die Bundesebene wird beherrscht von informellen Zirkeln und Absprachen.”
Der Austausch von Ideen ist – nach Einschätzung der Essener Basis – nicht sehr hoch. Claudia Jetter erklärt: „Es sind ein bisschen unterschiedliche Ebenen, die ein bisschen aneinander vorbeiarbeiten.” tom
Geschenkt. Aber das Kernproblem bleibt: Wofür steht Attac? Zur Jahrtausendwende gab es nur das einzige Ziel, eine Devisenumsatzsteuer einführen, um die internationalen Spekulationsgeschäfte zu zügeln. Doch rasch hat sich das Profil erweitert. Einen Bruch sehen die „Attacies” vor Ort, als die Bundesebene vor rund vier Jahren beschloss, die „Soziale Frage” zum Thema zu machen. Damit trat Attac in Konkurrenz mit Gewerkschaften und Parteien, steckte seine Ressourcen in eine Gießkanne und verwässerte sein Profil.
Und heute? Nachdenken. „Wir kritisieren die Auswirkungen der Globalisierung”, sagt Bütefür. Und was ist Globalisierungskritik? „Für mich ist das Kritik am Kapitalismus, an ungerechter Verteilung, an undemokratischen Verhältnissen.” Kritik an Ungerechtigkeit also.
Es ist ein sehr sympathischer Zug, dass der Sozialpädagoge, wie auch Claudia Jetter und der Beamte Hans Adler, sich die Wochenenden um die Ohren schlägt mit Demos und Workshops. Sie tun es aus der Überzeugung heraus, dass die Welt von allein nicht besser wird. Und alle haben sie eine ähnliche Sozialisation hinter sich. Grüne bis zum Kriegseinsatz im Kosovo 1999. Attac-Gründung in der Zeche Carl, kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September. WASG-Gründung nach Hartz IV. Und nun der Ressourcenkonflikt: Wo setzt man seine Arbeitskraft besser ein – bei Attac oder bei den Linken? Jetter kandidiert für die Linke in Essen, Bütefür im Bund auf einem Listenplatz.
Attac hat also ein Konkurrenzproblem auch im linken Lager. Dabei steigen die Mitgliederzahlen bundesweit stetig, mit der Finanzkrise haben sie im Herbst sogar einen deutlichen Sprung gemacht auf jetzt 22 000. (Rund 50 000 Interessenten beziehen außerdem Informationen über Attac). Auch Zumwinkel und die Steueroasen-Kritik haben etliche Mitglieder gebracht; die G 8-Gipfel sind auch zuverlässige Proliferanten.
"Adoptieren Sie einen Arbeitslosen!"
Im Ruhrgebiet aber sind es nach wie vor etwa 1000 Mitglieder, die meisten in den Unistädten, Tendenz eher sinkend. „Als wir mehr waren, konnten wir spontan mehr auf die Beine stellen”, sagt Büttefür. Am Hartz-Heiligabend 2004 zum Beispiel, da standen sie in Essen auf der Porschekanzel und verteilten Zettel: „Adoptieren Sie einen Arbeitslosen!” Der größte Erfolg, von Attac im Ruhrgebiet sind wahrscheinlich die vielen erfolgreichen Bürgerbegehren gegen die riskanten und dubiosen Cross-Border-Leasing-Geschäfte. Essen, Mülheim und einige andere Städte müssten den Kritikern heute noch dankbar sein, dass sie den Einstieg verhindert haben.
Das Potenzial ist also da, in der Frankfurter Zentrale geht man davon aus, dass sich die Schockstarre nun langsam löst. Und Professor Korte pflichtet bei: „Wir gewöhnen uns langsam an das Krisenphänomen, dann kann Attac wieder Punkte sammeln.” Attac-Sprecherin Frauke Distelrath rechnet mit einer „größeren Mobilisierung im Herbst.”