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Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze im Gespräch über sein neues Buch „Das Alarmdilemma“: Es geht um Krisen, Risiken und die Art, wie darüber öffentlich gesprochen wird.
Ein „Meister der Abkühlung“ wurde der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze einmal genannt: weil er erfrischende Sachlichkeit in erhitzte Diskussionen bringt. Über sein aktuelles Buch „Das Alarmdilemma“ (S. Fischer, 251 S., 19,90 €) sprach er mit Britta Heidemann.
Worin genau besteht unser „Alarmdilemma“?
Gerhard Schulze: Das Alarmdilemma begleitet uns alle ständig. Ein Beispiel: Ein anonymer Anrufer bedroht einen Flughafen mit einer Bombe. Wie auch immer man sich entscheidet, man riskiert einen Schaden: den Aufwand einer vergeblichen Suche oder Zerstörungen durch eine Explosion. Der Fall scheint klar: Besser den ersten Schaden riskieren! Aber denken wir mal weiter: Steht der Flugverkehr nicht unter einer ständigen Drohung? Der normale Flugverkehr zeugt davon, dass man oft das zweite Risiko wählt, sonst muss alles stillstehen.
Auf die Atomkatastrophe in Japan folgt die deutsche Risiko-Debatte...
Schulze: Das überrascht mich nicht. Die Ablehnung der Kernkraft ist in Deutschland so tief verwurzelt wie kaum sonst wo auf der Welt.
In Ihrem Buch findet sich der Satz: „Oft wird warnende Skepsis als Hysterie pathologisiert“. Erleben wir gerade so einen Fall?
Schulze: Es gibt auch das Gegenteil: Beschwichtigung wird als Verdrängung abgestempelt. Beides führt nicht weiter. Angesichts des Alarmdilemmas ist keinem gedient, wenn Diskurse, die sachlich zu führen wären, in Diffamierungswettkämpfe umschlagen. Mal spricht mehr für die Warnung, mal mehr für die Beschwichtigung.
FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher nennt die angebliche „Hysterie“ sogar rational und glaubt, dass sie der Motor für Innovation sein könnte. Sie halten Skeptiker eher für „Sand im Getriebe“?
Schulze: Gleichzeitig halte ich Skepsis für ein kostbares Geschenk. Die Erlaubnis zum Zweifeln ist das normative Zentrum von Wissenschaft, Demokratie und Medienlandschaft. Sie prägt den Alltag der Moderne und wir verdanken ihr unendlich viel. Skepsis ist aber nur um den Preis von Verärgerung und Entrüstung zu haben. Das ist nervig, aber sie ist mir lieber als angstvolles Schweigen.
Den Skeptikern gegenüber stehen die „Objektivitätsillusionisten“, die glauben, die Wissenschaft hätte alles fest im Griff...
Schulze: Wir alle neigen dazu, uns im Besitz der objektiven Wahrheit zu glauben und Indizien für Beweise zu halten. Auf tönernen Füßen stehen natürlich immer nur die Theorien der anderen. Momentan stehen alle – Politiker, Wissenschaftler, Aktivisten – vor der gleichen Schwierigkeit, Ungewissheit einzugestehen und Zweifel anderer zu ertragen.
Lassen sich die Deutschen heute schneller alarmieren als früher?
Schulze: Nicht nur die Deutschen sind risikosensibler geworden. Es handelt sich um einen weltweiten Trend, den man nur befürworten kann, weil er das Leben verlängert. Aus dem Alarmdilemma kommt aber niemand heraus. In anderen Nationen wird etwa das Schadensrisiko eines Ausstiegs aus der Kernkraft höher eingeschätzt als das Schadensrisiko ihrer Nutzung. Sie verweisen darauf, dass die moderne Kerntechnik längst eine viel höhere Sicherheit gewähre als die havarierten Reaktoren in Japan. Und sie wundern sich über die Deutschen.