Essen. . Der erste grüne Ministerpräsident: Kulturschock oder business as usual? Die Angst vor in Norwegerpullis verpackten Trotzkinder ist alt – und gestrig.
Kulturbruch? Zeitenwende? Nun, eine Woche nach der Wahl, die der Republik den ersten Ministerpräsidenten aus den Reihen der grauhaarigen Grünen bescheren wird, dürfte auch dem Letzten klar geworden sein, dass da keine Revolution mit Krawatte im Anzug ist.
Es ist – mit Verlaub, Herr Präsident – Jahrzehnte her, dass die Grünen in Latzhose, Wallebart und Norwegerpulli ins Parlament einzogen. Der Panzer gegen einen allzu bürgerlichen Anschein war aber nur die kratzbürstige Anti-Mode von Bürgerskindern auf dem Marsch in die Institutionen. Was wirkte wie ein eingebautes Oppositions-Gen, entpuppte sich als Modernisierungsantrieb für die bürgerliche Demokratie. Und was mit dem Dienstantritt des ersten grünen Ministerpräsidenten beginnen könnte, wäre der Wiederabstieg der Partei.
Die Grünen wurzeln in Bürgerinitiativ-Bewegung der 70er-Jahre: Ein-Anliegen-Parteien auf Zeit, die sich auflösten, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Die den schwerhörigen Volksparteien erklären mussten, dass Menschen lieber in schönen Altbauten leben als in Hochhaus-Wohnmaschinen, von denen nur Baulöwen und Spekulanten profitierten. Oder dass Menschen nicht nur die Strahlen der Atomenergie fürchten, wenn sie ein Kraftwerk vors Haus gesetzt bekommen. Sondern auch um die Irrationalität einer Technologie wissen, die mit Abermilliarden subventioniert wurde – und deren teure Folgen hundertmal mehr Generationen beschäftigen wird als der Homo Sapiens seit Erlernen des aufrechten Gangs in die Welt gesetzt hat. Partikular-Interessen zum Gemeinwohl zu erklären, ging als grüner Verhaltensreflex genauso ins Erbgut über wie der Glaube, gesellschaftliche Avantgarde zu sein.
Politisch sind die Grünen ein Kind der Bürgerrechte und der Volksparteien-Ignoranz. Soziologisch aber haben stammen sie aus jener „oberen Mittelschicht“, von der schon Franz-Josef Degenhardt wusste, dass sich 68 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik zu ihr zählen. Weil es diese Schicht in der DDR nie gab, bekamen die die Grünen mit Gründung der neuen Bundesländer kein Bein mehr auf den Boden. Das Demokratie-Ziel von „Bündnis ‘90“ schien ja längst erreicht – und die De-Industrialisierung des Landes wurde von der „Treuhand“ schneller durchgesetzt als es grüne Partei-Programmatik je vermocht hätte.
Trotzreiche Kindertage
Im Westen steckten die Grünen damals nach den trotzreichen Kindertagen in der Pubertät. Wie die SPD, die alles als USPD abstreifte, was sich mit der bürgerlichen Demokratie (und dem real existierenden Kapitalismus) nicht arrangieren mochte, so entledigten sich die Grünen ihrer „Fundamentalisten“. Diese heute nach Bombenterror klingende Vokabel bezeichnete damals nur Grundsatztreue. Die am Ende siegreichen „Realos“ aber ahnten, dass das Rotationsmodell, mit dem Grünen-Abgeordnete alle zwei Jahre ausgetauscht werden sollten, um nicht korrumpiert zu werden, mehr für eine theoretische Räte- als für eine praktische Bundesrepublik taugte. Mit den Bomben auf Belgrad, die Joschka Fischer als Außenminister verteidigte, gaben die Grünen schließlich auch den strikten Pazifismus auf. Der Farbbeutel, den der heimliche Parteichef damals auf einem Parteitag am Kopf traf, war der letzte Pickel der Parteipubertät. Bei den Grünen mache der Apotheker Friedensarbeit, hat die heutige Vorsitzende Claudia Roth mal gesagt.Vorbei. Heute macht er Förderprogramme für Solarenergie und Elektroautos, an denen vorzugsweise jene verdienen, die Geld übrig haben
Auf Schröders Markt
Am Ende waren die Grünen so erwachsen, dass sie mit der Schröder-SPD jene Deregulierung des Finanzmarktes durchsetzte, die heute „Wutbürger“ hervorbringt: Menschen, die ohnmächtig zusehen müssen, wie ihre Steuermilliarden in die riesigen Löcher gestopft werden, die Banken und Euro-Staaten mit ihren systemkonform betrügerischen Spekulationen gerissen haben.
So trieb das Missverhältnis zwischen den Milliarden für Stuttgart 21 und dem, was sie bewirken, auch manch schwäbischen Sparbürger in die Wahlkabinen. Mit einem entscheidenden Zusatzantrieb: der grünen Restsicherheit, garantiert aus der Atomenergie auszusteigen. Sobald aber die anderen Parteien auch hier auf grün schalten, brauchen die Grünen ein neues Projekt, sonst vergreisen sie als Avantgarde von gestern.
Der Umgang mit dem Klimawandel wäre so ein Projekt. Er lässt allerdings keine einfachen Antworten zu. Schon gar nicht, wenn man an der Macht ist und angewiesen auf Kompromisse mit dem Machbaren. Wie sich das in Wählerstimmen auswirkt, bekommen gerade die anderen Parteien zu spüren.