Stuttgart. . Auf den künftigen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann wartet viel Arbeit. Der Grünen-Politiker hat viele Baustellen zu beseitigen – vor allem Stuttgart 21. Auch die mächtige Autoindustrie wird umdenken müssen.

Stuttgart ist am Morgen nach der Wahl verblüfft aufgewacht. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, und die politische Landschaft der baden-württembergischen Landeshauptstadt ist tief grün eingefärbt. Nur ein paar schwarze Flecken am Rand zeigen sich noch auf den Grafiken, die die Lokalzeitungen veröffentlichen. Rote? Gibt es kaum. Wie die einstige „Staatspartei“ CDU ist die SPD - in Stuttgart wie anderswo im Ländle - tief abgestürzt.

So spektakulär wie in der Metropole fallen die Umwälzungen des 27. März aber nur an wenigen anderen Orten aus. Die Grüne Muhterem Aras, eine 44-jährige Steuerberaterin und Muslimin, hat den City-Wahlkreis Stuttgart 1 mit satten 42,5 Prozent direkt genommen. Sie wird die erste türkischstämmige Politikerin im Landtag sein.

„Wir sind froh, jetzt ist vieles anders“

Im Schlosspark, wo die Gegner des Bahnhofsumbaus ihre Basislager haben, haben die Geigerin Angela Pastor und der Sänger David Stützel die Morgenschicht übernommen. Künstler sind heute dran. Dienstbeginn ist um neun Uhr in dem kleinen Kiosk, wo man die Aktivitäten gegen „S21“ koordiniert, ein Computerinformationsnetz aufbaut und Neugierige mit der Sicht des „Widerstands“ vertraut macht. Wie sie sich jetzt fühlt? „Wir sind froh, jetzt ist vieles anders“, sagt Angela Pastor, stutzt ein wenig – und stellt sich dann selbst eine Frage: „Aber was ändert sich eigentlich?“

Hoch über der Stadt in der Villa Reitzenstein, den Hauptbahnhof immer im Blick, wird jetzt der Grüne Winfried Kretschmann als Ministerpräsident einziehen. „Winfried, Winfried“ haben sie am Abend gerufen, als sich noch Tausende Menschen auf dem Schlossplatz versammelten. Die Erwartungen an den 62-jährigen sind riesig. Man will den großen Umbau, man will „mehr Demokratie und ein Mehr aufs Volk hören“, wie Widerständler Stützel sagt, „es geht ja nicht nur um Stuttgart 21“. Winfried Kretschmann hat am Abend allerdings gar nichts gesagt zu Sachfragen.

Nichts wird leicht für Grün-Rot am Neckar

Denn schon mit der Zukunft des Bahnhofs beginnen die Probleme der neuen Landesregierung. Sie reichen weiter über das ja sehr weitgehende Versprechen, das Schulsystem umzukrempeln, über neue Produktionsanforderungen an typisch schwäbische Traditionsbetriebe bis hin zum Ausstieg aus der Kernkraft. Nichts wird leicht für Grün-Rot am Neckar.

In Sachen Bahnhof ist die künftige Koalition gespalten. Die Grünen sind gegen die geplante unterirdische Durchgangsstation, die SPD dafür mit sanften Abrücktendenzen. Es gibt einen ersten Kompromiss: Eine verbindliche Volksabstimmung soll ergeben, ob das Projekt fortgeführt werden soll. Aber die Landesverfassung kennt kein Instrument für so eine Abstimmung, sie wäre rechtswidrig, sagen viele Juristen. Kann sich Grün-Rot zum Start ihrer Zusammenarbeit einen Verfassungsbruch erlauben? In den Schubladen der neuen stärksten Regierungsfraktion liegen deshalb schon Alternativpläne. Sie sehen zwar ein Ja zur neuen ICE-Schnellstrecke über Wendlingen nach Ulm vor, aber es soll bei einem aufgehübschten Kopfbahnhof in Stuttgart bleiben, der mit einem Tunnel an die Neubautrasse angebunden würde. Übrig bliebe dann aber immer noch die Drohung der Berliner Bahn-Zentrale, die von einer möglichen Schadenersatzforderung in Höhe von 1,5 Milliarden Euro wegen der schon erfolgten Bahnhofsplanung gesprochen hat. Kretschmann wird in Berlin hart verhandeln müssen – und eben nicht nur dort.

Parkschützer sendeten Warnsignale an die Wahlgewinner

Denn vielen „Widerständlern“, das bestätigt auch ihre Stallwache im Kiosk an diesem Montagmorgen, wäre das alles viel zu wenig, und noch am Abend hat es nach der Siegesfeier auf dem Schlossplatz Randale im Park gegeben. Parkschützer, die „überreagierten“, wie es Angela Pastors formuliert, haben Bauzäune umgekippt. Die Polizei kam. Die Schäden blieben in Grenzen. Letztlich war es aber ein Warnzeichen an die neue Regierungs-Adresse, dass sie unter Beobachtung steht.

Kaum weniger schwierig scheint die Klemme beim Ausstieg aus der Kernenergie zu bewältigen. Das Duo an der neuen Spitze, der Grüne Kretschmann und der Sozialdemokrat Nils Schmid, wollen alle Reaktoren im Lauf der Zeit ab- und bis 2050 auf regenerative Energien umschalten. Nur: Der abgewählte CDU-Ministerpräsident Stefan Mappus, der den baden-württembergischen Energiekonzern EnBW kurz vor Toresschluss für gepumpte 1,5 Milliarden Euro für den Staat gekauft hat, hat seinen Nachfolgern damit eine n Bärendienst erwiesen. Ohne Kernkraft, die Gewinn bringt, lässt sich der Kredit nicht zurückzahlen. „Das ist ein richtiger Klotz am Bein“, hat Kretschmann schon vor der Wahl geklagt. Denn Geld braucht die künftige Landesregierung auch noch für ihre anderen Zusagen: Für die Abschaffung der Studiengebühren und die flächendeckende Ganztagsschule. Und Zumutungen hält man für die Bevölkerung ja auch noch bereit: Städte und Gemeinden sollen die Möglichkeit erhalten, eine lokale „Nahverkehrsabgabe“ zu erheben, nach Kretschmann ein Mittel gegen die vielen Staus.

Kretschmann könnte die Automobil-Industrie angreifen

Auch wenn Kretschmann und Schmid den Ruf von moderaten Pragmatiker haben, die durchaus leise und kompromissbereit operieren: Die acht Millionen Wähler im Ländle werden sich an Kulturbrüche gewöhnen müssen. Kleingedrucktes gilt nämlich, und klein, aber deutlich gedruckt ist im Wahlprogramm der Grünen auch die Forderung nach der „ressourcenschonenden Produktion“ und der Satz: „Die Zukunft der Automobilindustrie liegt in nachhaltiger Mobilität“. In Sindelfingen „beim Daimler“ hat man hingehört, als der grüne Spitzenkandidat sie reichlich harsch anging: „Sprit fressende Luxuskarossen zu bauen, um sie dann in Schwellenländer wie China zu exportieren, in denen keine Demokratie herrscht, ist nicht sonderlich nachhaltig“.

Nur Wahlkampfgetöse? Erich Klemm, der Betriebsratsvorsitzende „beim Daimler“, freut sich natürlich über das Ergebnis der Landtagswahl. Betriebsratsvorsitzenden sind rote und grüne Bündnisse nicht fremd. Aber den „Stuttgarter Nachrichten“ hat er auch einen Satz in den Block diktiert, der Sorgen ausdrückt: „Wir hoffen, dass die Grünen in der Landesregierung nicht nur ökologische und energiepolitische Themen vorantreiben, sondern sich auch engagiert für eine moderne Industriepolitik einsetzen“ – und damit, meint er, für Jobs, für die die alte Landesregierung immer reichlich gesorgt hat.

„Kretschmann muss sich was trauen“, fordert dagegen die Kiosk-Besatzung vom Schlosspark. Deshalb haben sie hier die Wende gewählt. „Selbst viele alte CDU-Wähler haben das getan“, sagt die Geigerin Angela Pastors, die auf Nachfrage gerne auch einen Zweitjob angibt: „Berufsdemonstrantin“.